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Kehlmann_Daniel_-_Die_Vermessung_der_Welt

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einer Ohrfeige zuckte der Junge zurück. Dabei hatte er ihm nur auf die Schulter klopfen wollen. Ärger stieg in Gauß auf, jetzt konnte er die Geste nicht mehr zu Ende fuhren, ohne sich zu blamieren. Also mußte er ihm einen Klaps auf die Wange geben. Der geriet ein wenig zu fest, und Eugen sah ihn mit aufgerissenen Augen an.

Wie stehst du denn da, sagte Gauß, weil er den Schlag begründen mußte. Halt dich gerade! Er nahm Eugen den zusammengelegten Heliotrop aus den Händen. Kein Zweifel, der Junge hatte Minnas Verstand und vom Vater nur die Neigung zur Melancholie. Zärtlich strich Gauß über die Kristallspiegel, die Skalen und das schwenkbare Teleskop. Diese Erfindung würden die Menschen lange verwenden! Er wünschte, sagte er, er hätte das Gerät dem Grafen demonstrieren können.

Welchem Grafen?

Gauß stöhnte. Er war von klein auf an die Trägheit der Menschen gewöhnt. Aber seinem eigenen Sohn konnte er sie nicht durchgehen lassen. Dummer Esel, sagte er und ging los. Bei dem Gedanken daran, wieviel noch zu tun war, wurde ihm schwindlig. Deutschland war kein Land der Städte, es war bevölkert von Bauern und ein paar kauzigen Aristokraten, es bestand aus Tausenden Wäldern und Dörfchen. Ihm war, als müßte er sie alle aufsuchen.

Die

Hauptstadt

In Neuspanien wartete der erste Reporter.

Fast hätten sie es nicht bis dorthin geschafft, weil der Kapitän des einzigen Schiffes nach Veracruz sich geweigert hatte, Ausländer an Bord zu nehmen. Pässe hin oder her, er sei Neugranadier, Spanien interessiere ihn nicht, und Urquijos Siegel sei bedeutungslos, hier sowieso und jetzt auch drüben. Bestechungsgeld hatte Humboldt aus Prinzip nicht bezahlen wollen, schließlich hatten sie es so gelöst, daß Humboldt das Geld Bonpland gegeben und dieser es dem Kapitän zugesteckt hatte.

Unterwegs hatte eine Eruption des Vulkans Cotopaxi einen Sturm ausgelöst, und da der Kapitän Humboldts Ratschläge ignoriert hatte – er mache das seit Jahren, und es widerspreche dem Seerecht, seinen Navigator zu kritisieren, Besatzungsmitglieder könnten dafür aufgeknüpft werden –, waren sie weit vom Kurs abgetrieben. Damit der Sturm nicht ungenützt vorbeiging, hatte Humboldt sich fünf Meter über der Wasseroberfläche an den Bug binden lassen, um die Höhe der von keiner Küste gebrochenen Wellen zu messen. Einen ganzen Tag hatte er dort gehangen, von der Morgenstunde bis in die Nacht, das Okular des Sextanten vor dem Gesicht. Danach war er zwar leicht durcheinander, aber auch rot, erfrischt und fröhlich gewesen und hatte nicht begreifen können, war-

um die Matrosen ihn von da an für den Teufel gehalten hatten.

Am Bootssteg von Veracruz also stand ein schnurrbärtiger Mann. Er heiße Gomez und schreibe für mehrere Journale sowohl Neuspaniens als auch des Mutterlands. Er bitte untertänig, den Herrn Grafen begleiten zu dürfen.

Nicht Graf, sagte Bonpland. Nur Baron.

Da er seine Reise selbst beschreiben wolle, komme ihm das unnötig vor, sagte Humboldt und sah Bonpland vorwurfsvoll an.

Gomez versprach, daß er ein Schatten sein werde, ein Schemen, praktisch unsichtbar, daß er jedoch alles beobachten wolle, was nach Zeugen verlange.

Humboldt bestimmte zunächst die geographische Position der Hafenstadt. Ein exakter Atlas von Neuspanien, diktierte er Gomez, während er auf dem Rücken lag und das Teleskop auf den Nachthimmel richtete, könne die Besiedlung der Kolonie fördern, die Unterwerfung der Natur beschleunigen, das Geschick des Landes in eine günstige Richtung lenken. Angeblich habe ein deutscher Astronom die Bahn eines neuen Wandelsterns berechnet. Leider sei es unmöglich, Genaues zu erfahren, die Journale seien hier so rückständig. Manchmal wolle er heim. Er senkte das Fernrohr und bat Gomez, die letzten beiden Sätze aus seinen Notizen zu streichen.

Sie zogen ins Gebirge. Bonpland hatte sich vom Fiebet erholt: Er sah dürrer und trotz der Sonne blaß aus, er hatte die ersten Falten und deutlich weniger Haare als noch vor ein paar Jahren. Neu war, daß er an den Fingernägeln kaute, und aus Gewohnheit hustete er noch von Zeit zu

Zeit. Ihm fehlten jetzt so viele Zähne, daß ihm das Essen schwerfiel.

Humboldt dagegen schien unverändert. In alter Geschäftigkeit arbeitete er an einer Aufrißkarte des Kontinents. Er verzeichnete die Vegetationszonen, den in zunehmender Höhe absinkenden Luftdruck, das Ineinanderfließen der Gesteine im Berginneren. Um die Steinformationen zu unterscheiden, kroch er in Felslöcher, die so klein waren, daß er mehrmals steckenblieb und Bonpland ihn an den Füßen herausziehen mußte. Er kletterte auf einen Baum, ein Ast brach ab, und Humboldt stürzte auf den mitschreibenden Gomez.

Der fragte Bonpland, was Humboldt für ein Mensch sei.

Er kenne ihn besser als irgendeinen, sagte Bonpland. Besser als seine Mutter und seinen Vater, besser auch als sich selbst. Er habe es sich nicht ausgesucht, doch so sei es gekommen.

Und?

Bonpland seufzte. Er habe keine Ahnung.

Gomez fragte, wie lange sie schon gemeinsam unterwegs seien.

Er wisse es nicht, sagte Bonpland. Vielleicht ein Leben lang. Vielleicht länger.

Warum habe er all das auf sich genommen? Bonpland sah ihn mit rot unterlaufenen Augen an.

Warum habe er, wiederholte Gomez, es auf sich genommen? Warum sei er der Assistent –

Nicht Assistent, sagte Bonpland. Mitarbeiter.

Warum also sei er der Mitarbeiter dieses Mannes geblieben, trotz all der Mühen und all die Jahre hindurch?

Bonpland dachte nach. Aus vielen Gründen. Zum Beispiel?

Eigentlich, sagte Bonpland, habe er bloß immer weggewollt aus La Rochelle. Dann habe eines zum anderen geführt. Die Zeit vergehe so absurd schnell.

Das, sagte Gomez, sei keine Antwort.

Er müsse jetzt Kakteen zerschneiden. Bonpland wandte sich ab und erkletterte mit flinken Bewegungen die nächste Anhöhe.

Humboldt stieg unterdessen in die Mine von Taxco hinab. Einige Tage beobachtete er die Silberförderung, inspizierte die Verschalung der Stollen, beklopfte den Stein, unterhielt sich mit den Vorstehern. Mit seiner Atemmaske und der Grubenlampe sah er aus wie ein Dämon. Wo immer er auftauchte, fielen die Arbeiter auf die Knie und riefen Gott um Hilfe an. Mehrmals mußten die Vorarbeiter ihn vor Steinwürfen schützen.

Am meisten faszinierte ihn die Findigkeit der Arbeiter beim Diebstahl. Keiner durfte in den Förderkorb, bevor man ihn auf das genaueste untersucht hatte. Dennoch fanden sie immer wieder Wege, um Erzstücke mitzunehmen. Humboldt fragte, ob er sich der Wissenschaft halber an der Leibesvisitation beteiligen dürfe. Er fand Silberklumpen im Haar, in den Achselhöhlen, in den Mündern und selbst im Anus der Männer. Derlei Arbeit widerstrebe ihm, sagte er zum Bergwerksleiter, einem gewissen Don Fernando García Utilla, der ihm träumerisch zusah, wie er den Bauchnabel eines kleinen Jungen betastete; allein, die Wissenschaft und die Staatswohlfahrt verlangten es. Ein geregeltes Ausbeuten der Schätze der tiefen Erde sei nicht denkbar, wenn man nicht den Ein-

zelnteressen der Arbeitenden entgegenwirke. Er wiederholte den Satz, damit Gomez mitschreiben konnte. Außerdem sei es ratsam, die Anlagen zu erneuern. Es gebe zu viele Unfälle.

Man habe genug Leute, sagte Don Fernando. Wer sterbe, könne ersetzt werden.

Humboldt fragte ihn, ob er Kant gelesen habe.

Ein wenig, sagte Don Fernando. Aber er habe Einwände gehabt, Leibniz liege ihm mehr. Er habe deutsche Vorfahren, deshalb kenne er all diese schönen Phantastereien.

Am Tag ihrer Weiterreise standen zwei Fesselballons rund und leuchtend neben der Sonne. Das sei jetzt Mode, erklärte Gomez, jeder Mann von Stand und Mut wolle einmal mitfliegen.

Vor Jahren habe er den ersten Ballon über Deutschland gesehen, sagte Humboldt. Glücklich, wer damals geflogen sei. Als es gerade kein Wunder mehr gewesen sei und noch nichts Irdisches. Wie die Entdeckung eines neuen Sterns.

Bei Cuernavaca sprach sie ein junger Nordamerikaner an. Er hatte einen raffiniert gezwirbelten Bart, hieß Wilson und schrieb für den Philadelphia Chronicle.

Das sei ihm jetzt zuviel, sagte Humboldt.

Natürlich stünden die Vereinigten Staaten im Schatten des großen Nachbarn, sagte Wilson. Doch auch ihr junges Staatswesen habe eine Öffentlichkeit, die mit wachsendem Interesse die Taten von General Humboldt verfolge.

Bergwerksassessor, sagte Humboldt, um Bonpland zuvorzukommen. Nicht General!

Vor der Hauptstadt legte Humboldt Galauniform an. Eine Delegation des Vizekönigs erwartete sie mit dem Stadtschlüssel auf einer Anhöhe. Seit Paris waren sie in keiner Metropole dieser Größe gewesen. Es gab eine Universität, eine öffentliche Bücherei, einen botanischen Garten, eine Akademie der Künste und eine Bergbauakademie nach preußischem Vorbild unter der Leitung von Humboldts ehemaligem Freiberger Mitschüler Andres del Rio. Über das Wiedersehen schien der sich nicht mehr als nötig zu freuen. Er legte Humboldt die Hände auf die Schultern, hielt ihn auf Armeslänge von sich und betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen.

Also sei es wahr, sagte er in gebrochenem Deutsch. Trotz allen Geredes.

Welchen Geredes? Seit der Begegnung mit Brombacher hatte Humboldt nicht mehr seine Muttersprache verwendet. Sein Deutsch klang hölzern und unsicher, immer wieder mußte er nach Worten suchen.

Gerüchte, sagte Andres. Etwa, daß er ein Spion der Vereinigten Staaten sei. Oder einer der Spanier.

Humboldt lachte. Ein spanischer Spion in der spanischen Kolonie?

Aber ja, sagte Andres. Lange werde man nicht mehr Kolonie sein. Drüben wisse man das, und hier wisse man es erst recht.

Nahe dem Hauptplatz hatte man begonnen, die Reste des von Cortés zerstörten Tempels auszugraben. Im Schatten der Kathedrale standen gähnende Arbeiter, der stechende Geruch von Maisfladen hing in der Luft. Auf dem Boden lagen Knochenschädel mit Edelsteinaugen, Dutzende Obsidianmesser, kunstvoll in Stein geritzte

Bilder menschlicher Schlachtungen, kleine Tonfiguren mit offenem Brustkotb. Da war auch ein Steinaltar aus grob gehauenen Totenköpfen. Der Maisgeruch störte Humboldt, ihm war nicht wohl. Als er sich umdrehte, sah er Wilson und Gomez mit ihren Notizblöcken.

Er bat sie, ihn allein zu lassen, er müsse sich konzentrieren.

So arbeite ein großer Forscher, sagte Wilson.

Allein sein, um sich zu konzentrieren, sagte Gomez. Das solle die Welt erfahren!

Humboldt stand vor einem riesigen Rad aus Stein. Ein Gewirbel aus Echsen, Schlangenköpfen und in geometrische Splitter zerbrochenen Menschenfiguren. In der Mitte ein Gesicht mit herausgestreckter Zunge und lidlosen Augen. Er sah lange hin. Allmählich ordnete sich das Chaos; er erkannte Entsprechungen, Bilder, die einander ergänzten, Symbole, die, nach feinen Gesetzmäßigkeiten wiederholt, Zahlen verschlüsselten. Das hier war ein Kalender. Er versuchte ihn abzuzeichnen, aber es gelang nicht, und das hatte irgend etwas mit dem Gesicht in der Mitte zu tun. Er fragte sich, wo er diesem Blick schon begegnet war. Der Jaguar fiel ihm ein, dann der Junge in der Lehmhütte. Beunruhigt sah er auf seinen Block. Er würde hierfür einen professionellen Zeichner brauchen. Er starrte in das Gesicht, und es lag wohl an der Hitze oder am Maisgeruch, daß er sich auf einmal abwenden mußte.

Zwanzigtausend, sagte ein Arbeiter vergnügt. Zur Einweihung des Tempels seien zwanzigtausend Menschen geopfert worden. Einer nach dem anderen: Herz raus, Kopf ab. Die Reihen der Wartenden hätten bis zum Rand der Stadt gereicht.

Guter Mann, sagte Humboldt. Reden Sie keinen Unsinn!

Der Arbeiter sah ihn beleidigt an.

Zwanzigtausend an einem Ort und Tag, das sei undenkbar. Die Opfer würden es nicht dulden. Die Zuschauer würden es nicht dulden. Ja mehr noch: Die Ordnung der Welt vertrüge derlei nicht. Wenn so etwas wirklich geschähe, würde das Universum enden.

Dem Universum, sagte der Arbeiter, sei das scheißegal.

Am Abend aß Humboldt beim Vizekönig. Andres del Rio und mehrere Mitglieder der Regierung waren gekommen, ein Museumsdirektor, einige Offiziere und ein kleiner, schweigsamer Herr mit dunkler Hautfarbe und außergewöhnlich eleganter Kleidung: der Conde de Moctezuma, Ururenkel des letzten Gottkönigs und Grande des spanischen Reichs. Er bewohnte ein Schloß in Kastilien und wat geschäftehalber für ein paar Monate in der Kolonie. Seine Frau, eine großgewachsene Schönheit, sah Humboldt mit unverhohlenem Interesse an.

Zwanzigtausend sei schon richtig, sagte der Vizekönig. Vielleicht auch mehr, die Schätzungen gingen auseinander. Unter Tlacaelel, dem letzten Hohepriester, sei das Reich ganz dem Blut verfallen.

Nicht daß das Hohepriesterdasein wünschenswert gewesen sei, sagte Andres. Man habe sich selbst regelmäßig verstümmeln müssen. Beispielsweise habe man, er bitte die Damen um Verzeihung, zu wichtigen Festen seinem Gemächt Blut abgezapft.

Humboldt räusperte sich und begann von Goethe zu

sprechen, auch von seinem älteren Bruder und deren gemeinsamem Interesse für die Sprachen alter Völker. Diese hielten sie für eine Art besseres Latein, reiner und näher am Ursprung der Welt. Er frage sich, ob das auch fürs Aztekische zutreffe.

Der Vizekönig sah fragend den Conde an.

Er könne keine Auskunft geben, sagte der, ohne von seinem Teller aufzuschauen. Er spreche nur Spanisch.

Um das Thema zu wechseln, fragte der Vizekönig Humboldt nach seiner Meinung über die Silberminen.

Ineffektiv, sagte Humboldt geistesabwesend, überall Dilettantismus und Stümperei. Er schloß einen Moment die Augen, sofort erschien das Steingesicht vor ihm. Etwas hatte ihn gesehen, das spürte er, und würde ihn nicht mehr vergessen. Nur der gewaltige Überschuß von Silber, hörte er sich sagen, erlaube die Vortäuschung von Effizienz. Die Mittel seien überholt, die Diebstahlsquote sei enorm, das Personal ungenügend ausgebildet.

Einige Sekunden war es still. Der Vizekönig warf dem blaß gewordenen Andres del Rio einen Blick zu.

Das sei natürlich übertrieben formuliert, sagte Humboldt, erschrocken über sich selbst. Vieles habe ihn beeindruckt!

Der Conde sah ihn schwach lächelnd an.

Neuspanien brauche einen fähigen Bergwerksminister, sagte der Vizekönig.

Humboldt fragte, an wen er da denke. Der Vizekönig schwieg.

Unmöglich, sagte Humboldt und hob die Hände. Er sei Preuße, er könne nicht für ein anderes Land Dienst tun.

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