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Kehlmann_Daniel_-_Die_Vermessung_der_Welt

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Erst später am Abend brachte er es fertig, ein paar Worte mit dem Conde zu wechseln. Leise fragte er ihn, was er über ein riesiges Kalenderrad aus Stein wisse.

Etwa fünf Ellen im Radius? Humboldt nickte.

Mit gefiederten Schlangen, ein starres Gesicht im Mittelpunkt?

Ja, rief Humboldt.

Darüber wisse er nicht das geringste, sagte der Conde. Er sei kein Indianer, sondern spanischer Grande.

Humboldt fragte, ob es keine Familienüberlieferung gebe.

Der Conde richtete sich zu seiner vollen Höhe auf und reichte nun bis zu Humboldts Brust. Sein Vorfahr habe sich von Cortés kidnappen lassen. Er habe um sein Leben gefleht wie eine Frau, habe gejammert und geweint und schließlich, nach Wochen der Gefangenschaft, die Seiten gewechselt. Es seien Azteken gewesen, die ihn mit Steinwürfen getötet hätten, Wenn er, der Conde de Moctezuma, jetzt auf den Hauptplatz ginge, er würde keine fünf Minuten leben. Der Conde überlegte. Vielleicht, sagte er dann, würde auch gar nichts passieren. Alles sei lange her, die Menschen erinnerten sich kaum noch. Er faßte den Ellenbogen seiner Frau und blickte mit schmalen Augen an Humboldt hinauf. Wer immer ihn treffe, forsche in seinem Gesicht nach einem Abglanz der Züge des Gottkönigs. Jeder, der seinen Namen erfahre, blicke durch ihn hindurch in die Vergangenheit. Ob Humboldt sich vorstellen könne, wie es sei, das Leben als Schatten eines großen Verwandten zu fuhren?

Manchmal könne er das, antwortete Humboldt.

Familienüberlieferung, wiederholte der Conde abfällig. Er und seine Frau gingen ohne Gruß.

Früh am Morgen bemerkte Humboldt, daß Bonpland nicht da war. Sofort machte er sich auf die Suche. Die Straßen waren voller Händler: Ein Mann verkaufte getrocknete Früchte, ein zweiter Wundermittel gegen alle Krankheiten außer der Gicht, ein dritter schlug sich mit einem Beil die linke Hand ab, welche er dann herumgeben und von der Menge untersuchen ließ, während er unter Schmerzen wartete, bis er sie zurückbekam. Er preßte sie an den Stumpf und beträufelte sie mit Tinktur. Bleich vom Blutverlust hieb er dann ein paarmal auf den Tisch, um zu zeigen, daß sie angewachsen war. Die Umstehenden klatschten und kauften ihm alle Tinkturvorräte ab. Ein vierter hatte Wundermittel gegen Gicht, ein fünfter billig gedruckte illustrierte Broschüren. In einer davon wurde die Geschichte eines wundertätigen Priesters erzählt, in einer anderen das Leben des Indiojungen, dem die Madonna von Guadaloupe erschienen war, in einer dritten die Abenteuer eines deutschen Barons, der ein Boot durch die Hölle des Orinoko gesteuert und den höchsten Berg der Welt bestiegen hatte. Die Bilder waren gar nicht übel, besonders Humboldts Uniform war gut getroffen.

Er fand Bonpland, wo er ihn vermutet hatte. Das Haus war aufwendig geschmückt, die Fassade bedeckt mit chinesischen Kacheln. Ein Pförtner bat ihn zu warten. Minuten später tauchte Bonpland in hastig übergestreifter Kleidung auf.

Humboldt fragte, wie oft er ihn noch an ihre Abmachung erinnern solle.

Das sei ein Hotel wie jedes andere, antwortete Bonpland, und die Abmachung sei eine Zumutung. Er habe ihr nie zugestimmt.

So oder so, sagte Humboldt, es sei jedenfalls eine Abmachung.

Bonpland forderte ihn auf, sich die Predigten zu sparen.

Am nächsten Tag erstiegen sie den Popocatepetl. Ein Pfad führte fast bis zum Gipfel: Gomez und Wilson, der Bürgermeister der Hauptstadt, drei Zeichner und fast hundert Schaulustige folgten ihnen. Wann immer Bonpland eine Pflanze abschnitt, mußte er sie herumzeigen. Meist kam sie so abgegriffen zurück, daß er sie nicht mehr in die Botanisiertrommel zu legen brauchte. Als Humboldt vor einem Erdloch seine Atemmaske anschnallte, brandete Applaus auf. Und während er mit dem Barometer die Höhe des Gipfels bestimmte und sein Thermometer in den Krater hinabließ, verkauften Händler Erfrischungen.

Beim Abstieg sprach sie ein Franzose an. Er heiße Duprés und schreibe für mehrere Pariser Zeitschriften. Eigentlich sei er wegen der von Baudin geleiteten Expedition der Akademie angereist. Aber nun sei Baudin nicht aufgetaucht, und er habe kaum sein Glück fassen können, als er erfahren habe, daß ein viel Größerer im Land sei.

Für einen Moment gelang es Humboldt nicht, ein selbstgefälliges Lächeln zu unterdrücken. Er hoffe immer noch, sich Baudin anzuschließen und mit ihm zu den Philippinen zu fahren. Er trage sich mit dem Gedanken, den Kapitän in Acapulco abzufangen, damit man sich ge-

meinsam der Untersuchung der seligen Inseln widmen könne.

Gemeinsam, wiederholte Duprés. Der seligen Untersuchung der Inseln.

Der Untersuchung der seligen Inseln!

Duprés strich es durch, schrieb es neu und bedankte sich.

Dann besuchten sie die Ruinen von Teotihuacan. Sie schienen zu groß für menschliche Erbauer. Auf einer geraden Chaussee gelangten sie zu einem von Tempeln umstandenen Platz. Humboldt setzte sich auf den Boden und rechnete, die Menge beobachtete ihn aus der Entfernung. Bald wurde es den ersten langweilig, manche begannen zu schimpfen, nach einer Stunde waren die meisten und nach neunzig Minuten die allerletzten gegangen. Nur die drei Journalisten blieben. Bonpland kam verschwitzt von der Spitze der größten Pyramide zurück.

So hoch habe er es sich nicht vorgestellt! Humboldt, den Sextanten in Händen, nickte.

Vier Stunden später, längst war es Abend, saß er immer noch da, in der gleichen Haltung über das Papier gebeugt, Bonpland und die Journalisten waren frierend eingeschlafen. Als Humboldt kurz darauf seine Instrumente einpackte, wußte er, daß die Sonne am Tag des Solstitiums von der Chaussee aus gesehen genau über der Spitze der größten Pyramide aufund durch die Spitze der zweitgrößten unterging. Diese ganze Stadt war ein Kalender. Wer hatte das erdacht? Wie gut hatten die Menschen die Sterne gekannt, und was hatten sie mitteilen wollen? Seit über tausend Jahren war er der erste, der ihre Botschaft lesen konnte.

Warum er so bedrückt sei, fragte Bonpland, der vom Klappern der Instrumente wach geworden war.

So viel Zivilisation und so viel Grausamkeit, sagte Humboldt. Was für eine Paarung! Gleichsam der Gegensatz zu allem, wofür Deutschland stehe.

Vielleicht sei es Zeit zur Heimkehr, sagte Bonpland. In die Stadt?

Nicht in diese.

Eine Weile sah Humboldt in den bestirnten Nachthimmel. Gut, sagte er dann. Er werde diese erschreckend intelligent geschichteten Steine verstehen lernen, als wären sie Teil der Natur. Danach werde er Baudin allein zu den Philippinen aufbrechen lassen und das erste Schiff nach Nordamerika nehmen. Von dort würden sie zurück nach Europa fahren.

Zuvor aber reisten sie zum Vulkan Jorullo, der vor fünfzig Jahren ganz plötzlich unter Donner, Feuersturm und Ascheregen aus der Ebene gestiegen war. Als er in der Ferne auftauchte, klatschte Humboldt vor Aufregung in die Hände. Dort hinauf müsse er noch, diktierte er den Journalisten, davon sei die endgültige Widerlegung der neptunistischen Thesen zu erwarten. Wenn er an den großen Abraham Werner denke, er buchstabierte den Namen, tue ihm das beinahe leid.

Am Fuß des Vulkans empfing sie der Gouverneur der Provinz Guanajuato mit großem Gefolge, darunter der Erstbesteiger, ein alter Herr namens Don Ramon Espeide. Der bestand darauf, die Expedition anzuführen. Die Sache sei zu gefährlich, um sie Laien zu überlassen!

Humboldt beteuerte, daß er mehr Berge erklettert habe als irgendein Mensch.

Ungerührt gab Don Ramón ihm den Ratschlag, nicht direkt in die Sonne zu schauen und bei jedem Aufsetzen des rechten Fußes die Madonna von Guadaloupe anzurufen.

Sie kamen schleppend voran. Immer wieder mußten sie auf den einen oder anderen Begleiter warten; besonders Don Ramón rutschte immer wieder aus oder konnte vor Erschöpfung nicht weiter. Regelmäßig ließ sich Humboldt unter staunenden Blicken auf alle viere nieder, um mit dem Hörrohr den Felsboden zu behorchen. Oben angekommen, seilte er sich in den Krater ab.

Der Kerl, sagte Don Ramón, sei ja vollkommen irre, so etwas habe er noch nie erlebt.

Als man Humboldt wieder heraufzog, war er grün angelaufen, hustete erbärmlich, und seine Kleidung war angesengt. Der Neptunismus, rief er blinzelnd, sei mit diesem Tag zu Grabe getragen!

Ein Jammer eigentlich, sagte Bonpland. Er habe Poesie gehabt.

In Veracruz nahmen sie das erste Schiff zurück nach Havanna. Er müsse zugeben, sagte Humboldt, während die Küste im Dunst versank, er sei froh, daß es zu Ende gehe. Er lehnte sich an die Reling und schaute mit schmalen Augen in den Himmel. Bonpland fiel auf, daß er zum erstenmal nicht mehr wie ein junger Mann aussah.

Sie hatten Glück: In Havanna legte gerade ein Schiff ab, das den Kontinent hinauf und dann den Delaware-Fluß entlang nach Philadelphia fahren würde. Humboldt wandte sich an den Kapitän, zeigte einmal noch seinen spanischen Paß und erbat eine Passage.

Herrgott, sagte der Kapitän. Sie!

Himmel, sagte Humboldt. Ratlos sahen sie einander an.

Er halte das für keine gute Idee, sagte der Kapitän.

Er müsse aber nun einmal dort hinauf, sagte Humboldt und versprach, unterwegs keine Positionsbestimmungen durchzuführen. Er vertraue ihm völlig. Die Ozeanüberquerung damals habe er als Glanzstück der Seefahrerkunst in Erinnerung. Trotz der Seuche, des unfähigen Schiffsarztes und der falschen Berechnungen.

Und dann ausgerechnet Philadelphia, sagte der Kapitän. Seinetwegen könnten alle aufständischen Kolonialisten krepieren, die dort und die hier.

Er habe vierzehn Kisten mit Gesteinsund Pflanzenproben, sagte Humboldt, dazu vierundzwanzig Käfige mit Affen und Vögeln sowie einige Glasschatullen mit Insekten und Spinnentieren, die nach umsichtiger Behandlung verlangten. Wenn es recht sei, könne sofort aufgeladen werden.

Dies sei ein belebter Hafen, sagte der Kapitän. Sicher komme bald ein anderes Schiff.

Er hätte nichts dagegen, sagte Humboldt. Aber er habe nun einmal diesen Paß, und die katholischen Majestäten erwarteten, daß er sich beeile.

Humboldt hielt sich an sein Versprechen und mischte sich nicht in die Navigation. Wäre nicht ein Affe ausgebrochen, der ganz allein den halben Proviant verzehrte, zwei Taranteln befreite und in der Kapitänskajüte alles in Fetzen riß, wäre die Reise ohne Störungen vorbeigegangen. Er verbrachte die Fahrt auf dem Hinterdeck, schlief mehr als sonst und setzte Briefe an Goethe, seinen Bruder und Präsident Thomas Jefferson auf. Während in

Philadelphia die Kisten abgeladen wurden, verabschiedeten er und der Kapitän sich von neuem.

Er hoffe sehr auf ein Wiedersehen, sagte Humboldt steif.

Gewiß nicht mehr als er, antwortete der Kapitän, dessen Uniform notdürftig geflickt worden war.

Beide salutierten.

Eine Kutsche wartete, um sie in die Hauptstadt zu bringen. Ein Bote übergab eine formelle Einladung: Der Präsident ersuche um die Ehre, sie im neu gebauten Regierungssitz beherbergen zu dürfen; er sei begierig, alles und mehr über Herrn von Humboldts bereits legendäre Reise zu erfahren.

Erhebend, sagte Duprés.

Ein zu kleines Wort, sagte Wilson. Humboldt und Jefferson! Und er dürfe dabeisein!

Wieso Herrn von Humboldts Reise, fragte Bonpland. Wieso eigentlich niemals die Humboldt-Bonplandsche Reise? Oder die Bonpland-Humboldt-Reise? Die Bon- pland-Expedition? Ob ihm das einmal jemand erklären könne?

Ein Hinterwäldlerpräsident, sagte Humboldt. Wen interessiere schon, was der denke!

Die Stadt Washington befand sich im Aufbau. Überall waren Baugerüste, Gruben und Ziegelhaufen, überall hörte man Sägen und Hammerschläge. Der Regierungssitz, gerade fertiggestellt und noch nicht zu Ende gestrichen, war ein klassizistischer Kuppelbau, umgeben von Säulen. Er freue sich, sagte Humboldt, als sie aus der Kutsche stiegen, einmal wieder ein Zeugnis für den Einfluß des großen Winckelmann zu sehen!

Ein Spalier ungeschickt salutierender Soldaten hatte Aufstellung genommen, ein Trompetensignal wehte durch den Himmel, eine Fahne blähte sich im Wind. Humboldt hielt sich sehr gerade und hob den Handrücken an den Rand seiner Kappe. Vom Gebäude her näherten sich Männer in dunklen Gehröcken; voran der Präsident, hinter ihm der Außenminister Madison. Humboldt sagte etwas von der Ehre hierzusein, seinem Respekt vor der liberalen Idee, von der Freude, die Sphäre einer drückenden Despotie verlassen zu haben.

Ob er schon gegessen habe, fragte der Präsident und schlug ihm auf die Schulter. Sie müssen doch etwas essen, Baron!

Das Galadiner war miserabel, doch die Würdenträger der Republik hatten sich alle versammelt. Humboldt sprach von der Eiseskälte der Kordilleren und den Mükkenschwärmen am Orinoko. Er erzählte gut, bloß verlor er sich immer wieder in Fakten: Er berichtete so detailliert über Ströme und Druckschwankungen, über das Verhältnis von Höhenlage und Vegetationsdichte, über die feinen Unterschiede der Insektenarten, daß mehrere Damen zu gähnen begannen. Als er sein Notizbuch hervorholte und anfing, Meßergebnisse vorzutragen, versetzte Bonpland ihm unter dem Tisch einen Tritt. Humboldt trank einen Schluck Wein und kam auf die Last des Despotismus und die Ausbeutung der Bodenschätze zu reden, welche einen sterilen Reichtum erzeuge, von dem die Volkswirtschaft niemals profitieren könne. Er sprach über den Alpdruck der Sklaverei. Wieder spürte er einen Tritt. Er sah Bonpland böse an, dann erst begriff er, daß es der Außenminister gewesen war.

Jefferson habe Ländereien, flüsterte Madison. Und?

Mit allem, was dazugehöre.

Humboldt wechselte das Thema. Er erzählte vom schmutzigen Hafen Havannas, vom Hochland von Caxamarca, von Atahualpas versunkenem Goldgarten, von den Tausende Meilen langen Steinwegen, mit denen das Inkavolk die unzähligen Anhöhen verbunden hatte. Er hatte schon mehr getrunken, als er es gewöhnt war, sein Gesicht rötete sich, seine Bewegungen wurden ausladender. Immer schon sei er unterwegs gewesen, seit seinem achten Lebensjahr. Nie habe er mehr als sechs Monate an einem Ort verbracht. Er kenne alle Kontinente und habe die Fabelwesen gesehen, von denen die orientalischen Märchenerzähler berichteten: fliegende Hunde, mehrköpfige Schlangen und äußerst polyglotte Papageien. Leise vor sich hin lachend, ging er schlafen.

Am nächsten Tag hatte er, trotz seiner Kopfschmerzen, eine lange Unterredung im elliptisch geformten Arbeitszimmer des Präsidenten. Jefferson lehnte sich zurück und nahm seine Brille ab.

Bifokalgläser, erklärte er, sehr brauchbar, eine der vielen Erfindungen seines Freundes Franklin. Offen gesagt, der Mann sei ihm immer unheimlich gewesen, er habe ihn nie begriffen. Ja natürlich, gern. Hier!

Während Humboldt die Brille untersuchte, faltete Jefferson die Hände auf der Brust und begann Fragen zu stellen. Wenn Humboldt abschweifte, schüttelte er mild den Kopf, unterbrach und fragte noch einmal. Auf dem Tisch lag wie zufällig eine Karte von Mittelamerika. Er wollte alles über Neuspanien, dessen Transportwege und

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