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Mein Vater, der Sportsfreund

Mein Großvater war einer der wenigen Männer, die aus dem Krieg zurückkamen, und genoss deswegen in seiner Heimatstadt einen besonderen Status. Von Montag bis Freitag schuftete er als Buchhalter in der Schuhfabrik, am Wochenende spielte er verrückt. Am Samstag gleich nach dem Frühstück trank er zuerst literweise selbst gebrannten Schnaps aus einem Bierglas, das er als Kriegstrophäe mitgebracht hatte, dann griff er nach seinen Pistolen – in jedem Haus gab es damals eine große Waffensammlung – und ging auf den Hof. Dort schoss er beidhändig die Äpfel von den Bäumen. Anschließend lief er durch die ganze Stadt zum Kulturklub, brach die Türen auf, setzte sich ans Klavier und spielte bis zum Umfallen Brahms. Seine Familie traute sich nicht, den Klub zu betreten, und wartete stattdessen so lange draußen, bis die wilden Akkorde nicht mehr zu hören waren. Erst dann trugen sie meinen Großvater vorsichtig nach Hause zurück. Nach jedem dieser Wochenenden gab es ein paar neue Einschusslöcher in den Häusern der Nachbarschaft, Trotzdem wurden die regelmäßigen Amok-Konzerte meines Großvaters von der Bevölkerung mit Verständnis aufgenommen. Meinem Vater, der damals zwölf Jahre alt war, erklärte man: »Dein Papa treibt Sport.«

Trinken, schießen, in der Stadt rumlaufen und Klavier spielen – das war eine Art Vierkampf, den mein Großvater bis zu seinem Tod 1976 betrieb. »Fit sein macht Spaß!«, sagte er immer wieder zu seinem Sohn, meinem Vater. Der erbte die Vorliebe des Großvaters für unkonventionelle sportliche Leistungen und übernahm auch dessen Fitness-Devise. Als Junge interessierte er sich jedoch zuerst für solch ortsübliche Sportarten wie Gymnastik und Gewichtheben und ließ sich gleichzeitig in beiden Sportvereinen einschreiben. Mein Vater

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sehnte sich nach Harmonie, nach Stärke und Biegsamkeit. Doch diese zwei Sportarten harmonierten nicht miteinander. Mein Vater wurde stets von den anderen Sportlern verspottet. Die Turner nannten ihn »fliegender Sarg«, und die Gewichtheber gaben ihm den Spitznamen »Heuschrecke«.

»Du musst dich für das eine oder das andere entscheiden. Sonst wird aus dir nie was«, sagten die Trainer zu ihm.

Irgendwann sah sich mein Vater gezwungen, sich nach neuen, ihm unbekannten Sportarten umzuschauen. Er spielte eine Zeit lang Handball, machte viele schmerzhafte Erfahrungen beim Boxen, wurde fast ein Jahr lang als Fechter an allen möglichen Stellen gestochen, fiel mehrmals vom Fahrrad, gab aber trotzdem nicht auf.

Im reifen Alter von vierundvierzig Jahren kam mein Vater auf die alte Idee des Großvaters, neue, ganz persönliche Sportarten für sich zu entwickeln, Dinge zusammenzuführen, die nicht zusammengehörten. Es war gerade die Zeit, in der alle anfingen zu joggen, und mein Vater machte daraus eine eigene Sportart: Jeden Sonntag ging er in seinen Turnschuhen und im Sportanzug auf die Rublewskojer Chaussee und lief die zwanzig Kilometer lange Strecke zum Restaurant Jägerhaus, das sich bereits außerhalb der Stadtgrenze befand und als sehr edel und teuer galt. Dort angekommen, bestellte mein Vater ein gebratenes Huhn, trank dreihundertfünfzig Gramm armenischen Cognac der Marke Ararat und ließ sich anschließend mit dem Taxi nach Hause chauffieren.

Wenig später entdeckte er die so genannte »Schwimmbadathletik« für sich, eine Sportart für Menschen mit starken Nerven. Als leidenschaftlicher Schwimmer brachte er sich eine Flasche Ararat mit, die ihn immer beim Sport begleitete. In der Schwimmhalle trank er zuerst zur Aufmunterung ein Glas Cognac, dann kletterte er auf das Sprungbrett, wartete, bis sich die Menschenmenge unten aufgelöst hatte, und rief dann: »Yahoo!« Mit diesem Aufschrei sprang er ins Wasser, die

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Hanteln in den Händen. Wie ein Tiefseetaucher bewegte er sich dann auf dem Boden des Schwimmbades von einer Wand zur anderen, bis ihm die Luft ausging. Dieser zweite Teil der Übung fiel bei meinem Vater unter »Atemgymnastik«. Danach ging er duschen, leerte die Cognac-Flasche und ließ sich mit einem Taxi nach Hause chauffieren. Die Sportbegeisterung meines Vaters war sehr groß. Die anderen Besucher des Schwimmbades konnten mit seiner Schwimmbadathletik allerdings wenig anfangen, und auch seine »Atemgymnastik« schreckte sie irgendwie ab. Sie bekämpften meinen Vater mit allen möglichen Mitteln, schrieben Beschwerdebriefe an alle Instanzen, und eines Tages wurde meinem Vater sein Schwimmbad-Abo tatsächlich entzogen. Er wurde zum ersten und wahrscheinlich auch letzten Moskauer, der ein Schwimmhallenverbot bekam. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, die Geschichte des Sports weiter mit immer neuen Sportarten zu bereichern. Erst als er in Rente ging und nach Deutschland übersiedelte, wurde mein Vater etwas ruhiger. Er treibt aber immer noch gerne Sport: joggt um die Wohnblocks und geht regelmäßig dreimal in der Woche um acht Uhr morgens in die Schwimmhalle am Ernst- Thälmann-Park.

Kürzlich nahm er darüber hinaus auch noch an einer »Radwanderung in die Dörfer des westlichen Barnim« teil, die der Vorruheständlerverein »Freizeitstätte Carow-Nord« regelmäßig organisiert. Mein Vater dünkte sich anfänglich den deutschen Rentnern fitnessmäßig überlegen, doch diese erwiesen sich als echte Rennfahrer. Mein Vater musste nur einmal kurz vom Fahrrad steigen, um zu pinkeln, und schon waren sie alle weg. Allein, ohne Handy und ohne Kompass, verlief er sich sofort im Dschungel des westlichen Barnim. Meine Mutter und ich machten uns große Sorgen, als es dunkel wurde und er immer noch nicht bei sich zu Hause in Carow-Nord aufgekreuzt war.

Mehr als zwanzig Stunden brauchte mein Vater, bis er aus dem westlichen Barnim einen Radweg zurück in die Berliner

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Zivilisation gefunden hatte. Seitdem hat er zur »Freizeitstätte Carow-Nord« eine gespaltene Beziehung. Obwohl sie ihn immer wieder mit neuen Ausflugsangeboten locken, geht er lieber wie in alten Zeiten schwimmen. In die Schwimmhalle am Ernst- Thälmann-Park nimmt mein Vater keine Hanteln mehr mit, von Kognak ganz zu schweigen. Höchstens ein Sechserpack Berliner Kindl. Trotzdem rennen alle auseinander, wenn mein Vater am Beckenrand erscheint: voll uniformiert mit einer wasserdichten Brille, einer wasserdichten Kappe und wasserdichter Uhr, dazu riesige grüne Schwimmflossen, die er noch aus Russland mitgebracht hat. Damit nimmt er noch im Duschbereich Anlauf. Durch die lebenslange Übung gelingt es ihm, seinem Körper eine erstaunliche Biegsamkeit und gleichzeitig eine beängstigende Schwerfälligkeit zu verleihen. Am Rand des Wasserbeckens springt er hoch, dreht sich mehrmals in der Luft, fuchtelt mit seinen grünen Flossen, schreit »Yahoo!« und rutscht ins Wasser. Alle älteren Schwimmer werden dabei von den Wellen ans Ufer geworfen und einige ungeschickte Grundschüler auf den Beckenboden gedrückt.

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