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Der_Campus

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»Ein Dilemma. Ich hab es oft im Seminar behandelt.« Jetzt nicht stoppen! Weiterlaufen! »Je mehr man seine Unschuld beteuert, desto verdäc htiger wird man.« War das die Hü rde? War er auf der anderen Seite? Ü ber dem Pferderü cken tauchte Hirschbergs Bulldoggengesicht auf und sah ihn an.

»Und das ist Ihre Lage im Augenblick?« »Ja.« Er war auf der anderen Seite gelandet.

Hirschberg tauchte wieder ab, und Hanno konnte hö ren, wie er seine Bü rste in rhythmischen Abstä nden vom Striegel abstreifte.

»Erzä hlen Sie«, erklang es hinter dem Pferderü cken.

Plö tzlich muûte Hanno lachen. »Wissen Sie, daû Karl V. mit seinen wichtigen Bezugsfiguren in verschiedenen Sprachen redete, Spanisch mit Gott, Franzö sisch mit seiner Frau, Italienisch mit seinen Bankiers und Deutsch mit seinem Pferd?«

»Mit mir reden Sie am besten Tacheles!« erscholl es unter dem Pferdebauch. »Also Ð Sie sind selbst das Ziel dieser Kampagne?«

»Ja.«

»Und es gibt da auch etwas, was miûverstä ndlich aussieht?« »Ja.«

»Sie hatten ein Verhä ltnis mit dieser Studentin. Das Mä dchen erhebt nun wirre Beschuldigungen, die irgendwie mit einem feministischen Theaterstü ck zusammenhä ngen. Und Ihr Prä sident sieht plö tzlich die Mö glichkeit, frisches Wasser ü ber seine trockenen Müh len zu leiten.« Hirschberg bearbeitete jetzt das Hinterteil des Pferdes, so daû Hanno ihm automatisch Platz machte und nach vorne zum Kopf ging.

»Ja, so ungefä hr ist es«, bestä tigte Hanno. Geistesabwesend betrachtete er die Blesse auf der riesigen Stirn des Pferdes und streichelte das Maul mit den beweglichen Lippen, die auf der Suche nach Zuckerstü cken an seiner Jackentasche knabberten.

»Jetzt kommt's drauf an.« Hi rschberg wurde hinter dem Pferd sichtbar. »War sie Ihre Studentin?«

»Ja. Aber ich habe es abgelehnt, ihre Arbeit zu betreuen«, füg te er hastig hinzu. Er merkte, wie er jetzt schon den Entschuldigungs-

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ton des Ertappten anschlug, und fuhr langsamer fort: »Darauf er- ö ffnete sie mir, sie wolle sowieso Theater studieren und gä be die Soziologie auf.«

»Aha, ein Grenzfall also. Man kö nnte daraus Unzucht mit Abhä ngigen konstruieren oder sogar den Studienabbruch mit der Belastung durch das Verhä ltnis begrün den.«

»O Gott, das stimmt, ja, daran hab ich noch gar nicht gedacht.« Hanno versteckte sich auf der anderen Seite des Pferdes, als Hirschberg nun auf seiner Seite die ausgedehnten Fläc hen unter die Bü rste nahm.

»Na ja, das Ganze ist halb so schlimm. Es ist alles nur Rhetorik und Kampagne, wenn Sie die Zä higkeit haben, so etwas durchzustehen. Sie mü ssen nur alles abstreiten. Fangen Sie ja nicht an, komplizierte Wahrheiten zu erzä hlen. Die werden nur gegen Sie ausgeschlachtet. Sowenig Details wie mö glich. Blanke Leugnung. Ihre Reputation spricht fü r Sie. Sie haben doch nicht so etwas schon ö fter gemacht? Oder? Sonst graben die früh ere Freundinnen von Ihnen aus!« Ü ber dem Pferderü cken erschien wieder Hirschbergs Kopf wie eine Figur im Kasperletheater und sah ihn an. -Kinder, seid ihr alle da?¬ -Ja, wir sind alle da.¬

»Um Himmels willen, nein. Aber wer sollte so etwas ausgraben? Die vom JOURNAL?«

»Ja, die auch.« Der Kopf verschwand wieder. »Aber ich hö re, die wollen Sie vor ihren Disziplinarausschuû laden, und wenn sie das wollen, mü ssen sie etwas in der Hand haben. Also werden sie suchen.«

Hannos Nervensystem erhielt einen Stromstoû. -Die wollen Sie vorladen.¬ Hatte der Hirschberg etwa schon vorher gewuût, daû er der sexuelle Erpresser war? Und woher? Was wuûte er ü berhaupt?

»Nicht wahr. Sie haben schon vorher gewuût, daû ich derjenige welcher bin.«

Hirschbergs Stimme klang gepreût unter dem Bauch des Pferdes hervor. »Gewuût nicht, geahnt.« Er machte eine Pause, richtete

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sich dann auf und hä ngte beide Arme ü ber den Pferderü cken. In der einen Hand hielt er den Griff eines Striegels, ü ber die andere hatte er das Halteband der Bü rste gestreift. »Das war nicht schwer. Im JOURNAL hatte ja gestanden, es mü ûte ein Soziologe sein. Und von denen kannte ich sowieso nur Sie. Und als ich dann sah, wie Sie bei Zitkau in das Grab fielen, da dachte ich mir. Sie sind es. Sie sind der Typ dafü r. Wissen Sie, das passiert nicht jedem Ð nach vierzig Jahren Journalismus erkennen Sie den Typ, der aus Versehen in der Schieûbude den Besitzer erschieût.«

Hanno füh lte

sich von

dieser trockenen Beschreibung zerkrü -

meln wie ein

Lö schblatt

auf der Herdplatte. Der akademische

Olympier als Calamity Jane! Eine Witzfigur. Der Typ, der beim Staatsempfang auf dem Flugplatz die Gangway hinunterfiel!

»Kö nnen Sie mal den Huf halten? Ich muû da wohl etwas rausziehen.« Hirschberg hatte jetzt Striegel und Bü rste zur Seite gelegt. und sich statt dessen mit einer Zange bewaffnet. »Nur so aufnehmen, er ist ganz zahm.« Er zeigte auf den linken Vorderruû des Pferdes. »Ziehen Sie dran, dann gibt er Pfö tchen.« Und tatsäc h- lich, als Hanno das Vorderbein packte, verlagerte das Tier sein Tonnengewicht auf die anderen drei Beine und klappte das Vorderbein nach hinten, so daû sie beide in das Schü sselchen der Hufunterseite mit dem Eisenrand blickten. »Da sitzt es.« Hirschberg zeigte mit der Zange auf das blinkende Ende einer Krampe, die in den Huf getreten war. »Wir mü ssen das erst ein biûchen saubermachen«, und er wandte sich um, um einen Kratzer zu holen. Hanno hielt den Fuû mit beiden Armen, so daû er sich parallel zum Rumpf des Pferdes in Richtung der Hinterbeine gebü ckt hatte. Er spü rte, wie das Pferd den Kopf nach hinten schwang und seinen Rü cken benagte.

»Wie heiût Ihr Pferd eigentlich?« fragte Hanno.

Hirschberg lachte. »Akademiker. Verrü ckter Name, wie? Aber die Namen von Hengstfohlen mü ssen immer mit demselben Buchstaben anfangen wie der Name des Vaters, und der hieû Alarich. Ihre Tochter kennt ihn ü brigens, sie hat ihn hä ufig geritten. Sie

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sagte immer, -Mein Vater ist auch Akademiker¬. So, jetzt wollen wir das Biest mal rausziehen. Kö nnen Sie noch halten, ja? Betten Sie ihn auf ihr Knie. Das macht es leichter. So Ð da haben wir ihn. Ich wuûte doch, daû er irgend etwas im Fuû hat. Jetzt kö nnen Sie ihn wieder absetzen.«

Hanno lieû das Bein los, und Akademiker stand wieder solide wie ein Tisch mit allen vier Fü ûen auf der Erde. »So.« Hirschberg klatschte seinem Pferd mit der flachen Hand auf den Hintern. »Zurü ck in den Stall.« Er band das Halfter vom Haltering los, und Akademiker folgte ihm mit gesenktem Kopf und hell klingenden Hufen ü ber den Betongang vor dem Gebä ude in die Stalltü r, wä h- rend Hanno hinterhertrottete.

»Da, halten Sie ihn noch mal, ich habe ganz vergessen, das Stroh aufzuschü tten.« Hanno nahm den Strick des Halfters, wä hrend Hirschberg in der Box verschwand und mit der Mistgabel frisches Stroh verteilte.

»Sie meinen also, ich sollte die Sache auf mich zukommen lassen«, nahm Hanno den Faden wieder auf.

»Benehmen Sie sich wie ein Unschuldiger.« Hirschberg stü tzte sich auf die Mistgabel und schaute ihn an. »Und wenn Sie einem alten Mann gestatten, sich in Dinge einzumischen, die ihn nichts angehen?«

»Aber ja. Ich kann Ihnen ü brigens gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, daû Sie sich so mit meiner Kalamitä t beschä ftigen.«

Hirschberg nahm die Strohverteilung wieder auf. »An Ihrer Stelle wü rde ich auf keinen Fall irgendwelche Seelenerleichterung gegenü ber meiner Familie betreiben. Ehefrauen reagieren manchmal unberechenbar. Und dann haben Sie ohne Not eine zweite Front erö ffnet. In solchen Sachen braucht man nur gute Nerven. Es sieht furchtbar aus, wenn der Orkan losbricht. Man meint, man ü berlebt es nicht. Man mö chte wegrennen, doch wirklich gefä hrlich wird es nur, wenn man selbst in Panik gerä t. Wenn man aber ruhig den Kopf einzieht und die Bö en ü ber sich wegsausen lä ût, ist es bald vorbei. Ich habe es oft erlebt. Das bewundere ich

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bei richtigen Politikern: Die haben Nerven wie Drahtseile. Aber nach einer gewissen Zeit sind sie natü rlich auch abgehä rtet. Die wissen, es gibt nur eins, was töd lich sein kann: wenn es Zeugen gibt.«

Ein Zahnarzt, der plö tzlich seinen Nerv getroffen hatte, hä tte Hanno nicht stä rker zurü ckzucken lassen. Dabei hatte er es kommen sehen, er wuûte ja, daû das die Schwachstelle seines kün ftigen

Glaubwü rdigkeitsduells war. Aber er hatte es immer

wieder ver-

drä ngt. Wie sollten sie auch die Bauarbeiter finden?

Wie sollten

die Bauarbeiter mitbekommen, daû sie etwas gesehen hatten, womit sich der Disziplinarausschuû beschä ftigte? Sie lasen bestimmt nicht das JOURNAL, und in der Morgenpost hatte noch nichts gestanden. Andererseits Ð bald wü rden die auch etwas darü ber schreiben. Er muûte auch den peinlichsten Teil der Affaire gestehen. Hirschberg lehnte jetzt in der Box die Mistgabel an die Wand und nahm Hanno das Halfter ab. Er streifte es dem Pferd vom Kopf, und Akademiker schritt in das frische Stroh und senkte schnobernd seine Schnauze hinein. »So, jetzt kriegst du auch noch was zu futtern!« Hirschberg schaufelte aus einem Sack etwas Hafer in eine Schü ssel und schü ttete ihn unter dem Heugatter durch in den Futtertrog. Und Akademiker begann sofort, mit laut mahlenden Zä hnen Hafer zu kauen.

»Aber es gibt ja Zeugen.«

Hirschberg fuhr aus der Betrachtung von Akademikers genü ûlicher Mahlzeit auf.

»Es gibt Zeugen? Wovon? Da hilft jetzt alles nichts, Professor Hackmann. Wenn ich Ihnen helfen soll, mü ssen Sie mir das sagen.«

Und Hanno schilderte, so dezent er konnte, seine Abendvorstellung fü r die Bauarbeiter. Als er geendet hatte, begann Hirschbergs Gesicht in beunruhigender Weise zu zucken. Erst machte sich ein Wulst selbstä ndig und fuhr auf eigene Faust in seinem Gesicht herum, dann folgte ein zweiter, und nach kurzer Zeit vollfüh rten die Fleischtaschen und Hautwü lste von Hirschbergs Gesicht einen

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veritablen Veitstanz. Gleichzeitig hö rte Hanno ein unterirdisches schleimiges Rasseln, das langsam lauter wurde und schlieûlich in einem stochastischen Vulkanausbruch explodierte. »Nehmen Sie es mir nicht ü bel, aber wenn ich mir vorstelle...« Hirschberg lieû offen, was er sich vorstellte. Dann wurde er plö tzlich wieder ernst. »Sie hä tten mir das gleich am Anfang sagen sollen. So haben wir Zeit verloren.« Er zeigte aus der Stalltü r auf die gegenü berliegende Reithalle. »Da drü ben gibt es neben der Reitbahn eine kleine Holztribün e mit Stüh len und einem kleinen Kiosk, wo Sie sich einen Kaffee geben lassen kö nnen. Warten Sie dort auf mich, ich muû telefonieren.«

Er verschwand in Richtung des Haupthauses, und Hanno ging zum Reitstall hinü ber, setzte sich auf einen Plastikschalensitz auf der Holztribün e und schaute zu, wie die schnaubenden Pferde in der Sä gemehl-Reitbahn geduldig die gleichen Programme absolvierten, wä hrend ein Reitlehrer mit langgezogenen Rufen die Reiter kommentierte. »Ja, so ist guuuut, Gerda. Nimm ihn ruhig fester, gesammelter. Ja, soooo. Gib ihm mehr Druck, Michael, doch nicht sooo. Du behinderst ihn ja...« Als Hirschberg zurü ckkehrte, hielt er ein Paket Zigarren in der Hand. »Mö chten Sie eine?« fragte er, als er sich neben ihn setzte.

»Nein danke.« Hanno war nervö s. Hirschberg hatte offenbar vor, es sich gemü tlich zu machen. »Was geschieht jetzt, was haben Sie unternommen?« fragte er.

Hirschberg lieû sich ruhig nieder, und wä hrend er seelenruhig Sein Ritual des Zigarrenspitzenabschneidens und -anzün dens vollfüh rte, erklä rte er Hanno in den Arbeitspausen, daû er die besten Rechercheure der Abendpost hatte ausschwä rmen lassen, um die Bauarbeiter aufzuspü ren.

»Keine Angst, die finden sie«, schloû er seinen Bericht. »Und bis sie sie gefunden haben, werden wir hier zusammen warten und

den Reitern zuschauen.«

 

 

Hanno konnte nicht einsehen, wohin

das füh ren

sollte. Er

wollte diese Bauarbeiter doch wohl nicht

bestechen?

Das kö nnte

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ja alles noch schlimmer machen. Wie ein Fieberschauer befiel ihn plö tzlich das Gefüh l, daû er sich diesem Hirschberg jetzt ausgeliefert hatte.

»Ja, und dann, wenn sie sie gefunden haben?« Hirschberg schien die Ä ngstlichkeit in seiner Stimme gehö rt zu haben.

»Keine Angst, sie tun nichts Illegales. Sie weisen sie nur darauf hin, daû sie, wenn sie eine Vergewaltigung bezeugen, sich selbst einer Straftat beschuldigen.«

»Wieso?« Hanno war verblü fft. »Welche Straftat meinen Sie?« »Der unterlassenen Hilfeleistung.«

Aber ja Ð warum war er da noch nicht selbst drauf gekommen? Hanno füh lte eine enorme Erleichterung. Er hä tte diesen Hirschberg umarmen kö nnen. Er fing an, diesen Mann zu mö gen. Er brauchte jetzt einen Freund. Er sah ja, er selbst konnte nicht mehr klar denken.

»Ich weiû gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Sie haben ja so recht. Und an Ihrer Souverä nitä t sehe ich, wie kopflos ich selbst bin.«

Hirschberg läc helte. »Warten Sie's ab.«

Aber Hannos Erleichterung setzte eine euphorische Gesprä - chigkeit frei.

»Wissen Sie, seitdem das passiert ist, habe ich mich manchmal gefragt, ob ich mein eigenes Milieu ü berhaupt noch richtig beobachtet habe. Ein ernü chternder Gedanke fü r einen Soziologen, daû er seine soziale Umgebung vielleicht gar nicht mehr begreift. Ich hab mich bisher immer fü r einen Linksliberalen gehalten. Ich war zwar kein Achtundsechziger, das war mir zu unrealistisch, aber ich gehö rte doch zu dem Milieu. Ich nehme an, Sie haben es immer fü r irregeleitet gehalten, wie?«

Ü ber Hirschberg stand die Zigarrenwolke wie der Rauch ü ber einem Vulkan.

»Ich war zu alt dafü r. Wie hat Ihr Kollege uns noch genannt? Skeptische Generation. Und Skepsis und Konservativismus gehö - ren irgendwie zusammen.« Er machte eine Pause fü r eine Zigar-

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renwolke. »Wir haben diesen Trü mmerhaufen mit dem Gefüh l wiederaufgebaut, nie wieder sinnloser Enthusiasmus! Nie wieder solche romantischen Gefüh lsorgien! Nie wieder solche Exaltationen! Und dann kamen sie doch wieder. Gott sei Dank nur als akademische Jugendrevolte. Also ungefä hrlich. Aber daû sie ü berhaupt mö glich war, hat mich gestö rt. Da hatten wir endlich die sogenannte bü rgerliche Demokratie, die uns die Rechten zertrü m- mert hatten, und da wurde sie von links wieder diskreditiert. Ich hielt sie nicht fü r so robust, daû sie das ohne meine Hilfe ü berleben konnte«, lachte er. »Und das hat mich zur Abendpost gebracht.«

»Jetzt scharfer Trab!« ertö nte das Kommando des Reitlehrers. »Nicht ausbrechen lassen, geradeaus!«

»Aber jetzt ist die Gefahr ü berstanden«, antwortete Hanno, damit sein Gegenü ber die Diagnose in die Gegenwart fortsetzte. Da richtete Hirschberg seine kleinen, unter Wü lsten vergrabenen Augen direkt auf ihn.

»Im Gegenteil. Jetzt kommt die eigentlich gefä hrliche Phase Ð die Phase der Fä ulnis. Die Moral ist in der Hektik der unrealistischen Projekte verkohlt worden. Was zurü ckgeblieben ist, ist die Korruption des Zynismus. Glauben Sie mir, ich weiû, wovon ich rede. Diese Stadt ist von oben bis unten korrupt. Die Kritiker schreiben, sie wird seit Jahren von derselben Partei regiert. Und sie meinen die SPD.« Er gab eine gewaltige Wolke von sich, so als ob der Vulkan bald Feuer speien wü rde. »Sie haben schon recht mit derselben Partei, aber es ist nicht die SPD. Es ist die Partei der Füh - rungszirkel aus beiden Parteien. Sie sichern sich ihre Posten auf Ewigkeit durch Absprachekartelle, wer kandidieren darf. Wer nicht zum Kartell gehö rt, hat keine Chance. Was ist das Ergebnis? Wahlen sind nur noch entscheidend fü r Hinterbä nkler. Nur die kö nnen ihre Mandate verlieren oder nicht. Die Mitglieder der inneren Zirkel sind immer drin. Fü r die ist eine Wahl egal.«

»Also der berüh mte Filz?« Hanno dachte daran, daû er dasselbe auch von der Universitä t sagen kö nnte.

»Das ist mehr als Filz, das setzt die Verfassung auûer Kraft. Die

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Opposition meint es nicht mehr ernst, sie regiert sowieso schon mit. Sie ist gekauft. Sie werden es nicht glauben, aber es gibt richtige Verträ ge ü ber die ausgewogene Verteilung von Pfrün den: Ü berlaût uns die Baugesellschaft, dann kriegt ihr die stä dtische Energiegesellschaft.«

»Nein!«

»Doch. Das wird inzwischen vertraglich geregelt. In dem einen Jahr streicht die Firma des SPD-Fraktionsvorsitzenden die Hamburger Brü cken, in dem anderen Jahr macht das die Firma des Parteivorstands der CDU. In geraden Jahren vertritt eine CDUKanzlei die Stadt in ihren Rechtsstreitigkeiten, in ungeraden Jahren macht das eine SPD-Kanzlei. Und in Schaltjahren darf eine FDP-Kanzlei ran«, ergä nzte er grimmig. »Kein Schuldirektorposten, kein Chefposten einer ö ffentlichen Sparkasse, der nicht in dieses System einbezogen wä re. Und dabei ist das Unrechtsbewuûtsein vö llig verschwunden. Im Gegenteil: Sie halten das fü r moralisch. Sie haben eine neue Moral ausgebildet, eine Art Stammesmoral, in der als gut gilt, was den eigenen Stammesangehö rigen nutzt. Das ist Neofeudalismus. Ihre Universitä t unterscheidet sich in nichts von der Stadt!«

»Gleichzeitig beobachtet man aber doch eine starke Moralisierung der Politik«, wandte Hanno ein.

Hirschberg schleuderte mit einer heftigen Handbewegung jetzt wirklich glüh ende Zigarrenasche um sich herum. »Sie meinen diese wechselnden Moralkampagnen fü r Frieden, Schutz der Natur und Befreiung aller Kanarienvö gel? Seien Sie doch nicht naiv, mein Lieber. Die Inhalte sind den Drahtziehern vö llig gleichgü ltig. Die unterstü tzen vö llig wahllos wechselnde Kreuzzüg e, um damit ihre eigene Machtbasis zu vergröû ern. Meinen Sie, bei Ihrem Prä - sidenten ginge es wirklich um das Schicksal vergewaltigter Frauen?«

Hanno muûte bei diesem Gedanken auch läc heln. Nein, allerdings nicht. Der wü rde seine eigene Groûmutter einem Kosakenregiment ausliefern, wenn ihm das nü tzte.

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»Das ist es, was ich an der Linken so ä rgerlich fand: Ich wuûte es damals noch nicht, aber ich ahnte es schon. Sie hat die Moral inflationiert. Sie hat den Grundsatz miûachtet, daû man auch in der Moral eine Politik des knappen Geldes machen muû. Sonst beschwö rt man eine Krise herauf. Dann verlieren die Leute den Glauben an die Moralwä hrung und werden korrupt. Dann herrscht der Schwarzmarkt der Moral. Und genau das ist heute geschehen. Die Linke hat die Moralwä hrung ruiniert. Als Konsequenz betä tigt sie die Notenpresse und pumpt mit moralischen Billigkampagnen immer mehr wertloses Geld in den Markt. Da man dadurch die moralische Geldentwertung natü rlich noch mehr anheizt, versucht man, den Wertverfall durch Geschichten wie Ihre aufzuhalten. Dadurch, daû man Leute wie Sie als Schurken hinstellt, hofft man, fü r das wertlose Geld wieder moralische Deckung zu finden. Das ist die gegenwä rtige Politik Ihrer linken Freunde, die Sie jetzt schlachten wollen. Und deswegen...« Jemand auf der anderen Seite der Halle schrie: »Herr Hirschberg, Telefon fü r Sie!«

»Das sind meine Leute!« sagte er und stand auf.

Als er weg war, tat Hanno etwas, was er seit seiner Jugend nicht getan hatte: Er faltete die Hä nde und betete. -Lieber Gott, mach, daû diese Reporter die Bauarbeiter finden.¬ In seinem Inneren begann der Junge wieder zu brabbeln, der er vor langer Zeit gewesen war. -Mach, daû das klappt. Mach, daû sie Erfolg haben. Laû mich diesmal noch davonkommen.¬ Die Litanei setzte lang verschü ttete Formeln aus Gottesdiensten seiner Kindheit frei. -Laû den Kelch an mir vorü bergehen. Mein Gott¬, fuhr es Hanno durch den Kopf, -ich rede ja wie Christus persö nlich.¬ Plö tzlich begann sein Herz vor Aufregung zu rasen. Zum ersten Mal nach langer

Zeit konnte er sich wieder

vorstellen,

daû

er davonkommen

kö nnte. Vielleicht kö nnte er

dem Tod

noch

einmal von der

Schippe springen. Warum sollte das nicht mö glich sein? Wo blieb nur dieser Hirschberg? In der Halle flog eine Schwalbe durch das

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