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4000 Bewerbungen aus 141 Ländern

Der Workshop "Directing Actors" von Kerry Fox ist einer von über zehn Workshops an denen die Talents teilnehmen können. Zusätzlich gibt es Podiumsdiskussionen mit Filmgrößen wie Wim Wenders, Isabella Rossellini oder Harry Belafonte. Teilnehmerin Laila Reischer, Schauspielerin aus Österreich, ist etwas erschöpft von dem Überangebot - zusätzlich können sich die Talents mit ihrer Akkreditierung nämlich auch noch Filme auf der Berlinale ansehen.

Laila Reischer genießt dennoch jeden Tag und kann gar nicht aufhören, vom Talent Campus zu schwärmen. "Es ist für mich wirklich eine Ehre aus den 4000 weltweiten Bewerbungen ausgewählt worden zu sein", sagt sie. "Ich versuche, so viel wie möglich mit zu nehmen und will dann zurück in Wien auch meinen Freunden und Bekannten aus der Filmbranche davon erzählen."

Abendessen mit Filmexperten

Dabei weiß Laila noch gar nicht, dass am Abend "Dine and Shine" auf sie wartet, ein gemeinsames Abendessen mit 150 Experten wie dem deutschen Regisseur Hannes Störr oder Ingeborg Berggreen-Merkel, der stellvertretenden Kulturstaatsministerin. Damit jeder mit jedem einmal ins Gespräch kommt, werden pro Gang die Sitzplätze getauscht, ähnlich wie schon beim morgendlichen Speed-Matching.

Auf die Frage, ob es nicht schwierig war, im Trubel der Berlinale Filmprofis für das Abendessen zu verpflichten, winkt Matthijs Knol, Programm-Manager des Talent Campus, milde ab. "Ich habe heute Abend - und das ist nicht gelogen - schon acht Leute getroffen, die mir gestanden haben, dass sie lieber hier sind, als bei der heutigen Premiere im Berlinale-Palast."

Welche Zukunft den Nachwuchsfilmern irgendwann mal bevorstehen könnte, lässt sich mit einem Blick in das diesjährige Berlinale-Programm beantworten: 35 Filme sind da zu sehen, einer gar im Wettbewerb, bei denen ehemalige Teilnehmer des Campus mitgewirkt haben.

5

Der Mann, der nie zu spät kam

Paul Maar

Ich will von einem Mann erzählen, der immer sehr pünktlich war. Er hieß Wilfried Kalk und war noch nie in seinem Leben zu spät gekommen. Nie zu spät in den Kindergarten, nie zu spät zur Schule, nie zu spät zur Arbeit, nie zu spät zum Zug. Der Mann war sehr stolz darauf.

Schon als Kind war Wilfried regelmäßig eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln aufgewacht. Wenn seine Mutter hereinkam, um ihn zu wecken, saß er angezogen in seinem Zimmer und sagte: „Guten Morgen, Mama. Wir müssen uns beeilen.“

Jeden Werktag, wenn der Hausmeister in der Frühe gähnend über den Schulhof schlurfte, um das große Schultor aufzuschlie­ßen, stand Wilfried bereits davor. Andere Kinder spielten nach der Schule Fußball und schauten sich auf dem Heimweg die Schaufenster an. Das tat Wilfried nie. Er rannte sofort nach Hause, um nicht zu spät zum Essen zu kommen.

Später arbeitete Wilfried in einem großen Büro in der Nachbar­stadt. Er mußte mit dem Zug zur Arbeit fahren. Trotzdem kam er nie zu spät. Er nahm den frühesten Zug und stand immer zwanzig Minuten vor der Abfahrt auf dem richtigen Bahnsteig.

Kein Arbeitskollege konnte sich erinnern, daß er jemals ins Büro gekommen wäre und Wilfried Kalk nicht an seinem Schreibtisch gesessen hätte. Der Chef stellte ihn gern als gutes Beispiel hin. „Die Pünktlichkeit von Herrn Kalk, die lobe ich mir“, sagte er. „Da könnte sich mancher hier eine Scheibe abschneiden.“

Deswegen sagten die Arbeitskollegen oft zu Wilfried: „Könntest du nicht wenigstens einmal zu spät kommen? Nur ein einziges Mal!“ Aber Wilfried schüttelte den Kopf und sagte: „Ich sehe nicht ein, welchen Vorteil es bringen soll, zu spät zu kommen. Ich bin mein ganzes Leben lang pünktlich gewesen.“

Wilfried verabredete sich nie mit anderen und ging nie zu einer Versammlung. „Das alles sind Gelegenheiten, bei denen man zu spät kommen könnte“, erklärte er. „Und Gefahren soll man mei­den.“

Einmal glaubte ein Arbeitskollege, er habe Wilfried bei einer Unpünktlichkeit ertappt. Er saß im Kino und schaute sich die Sieben-Uhr-Vorstellung an. Da kam Wilfried während des Films herein und tastete sich im Dunkeln durch die Reihe.

„Hallo, Wilfried! Du kommst ja zu spät“, sagte der Arbeitskol­lege verwundert. Aber Wilfried schüttelte unwillig den Kopf und sagte: „Unsinn! Ich bin nur etwa früher gekommen, um rechtzei­tig zur Neun-Uhr-Vorstellung hier zu sein.“

Ins Kino ging Wilfried sowieso sehr selten. Lieber saß er zu Hause im Sessel und studierte den Fahrplan. Er kannte nicht nur alle Ankunfts- und Abfahrtszeiten auswendig, sondern auch die Nummern der Züge und den richtigen Bahnsteig.

Als Wilfried 25 Jahre lang nie zu spät zur Arbeit gekommen war, veranstaltete der Chef ihm zu Ehren nach Dienstschluß eine Feier. Er öffnete eine Flasche Sekt und überreichte Wilfried eine Urkunde. Es war das erste Mal, daß Wilfried Alkohol trank. Schon nach einem Glas begann er zu singen. Nach dem zweiten Glas fing er an zu schwanken, und als der Chef ihm ein drittes Glas eingegossen hatte, mußten zwei Arbeitskollegen den völlig betrun­kenen Wilfried heimbringen und ins Bett legen.

Am nächsten Morgen wachte er nicht wie üblich eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln auf. Als der Wecker längst geläu­tet hatte, schlief er immer noch tief. Er erwachte erst, als ihm die Sonne ins Gesicht schien. Entsetzt sprang er aus dem Bett, hastete zum Bahnhof. Die Bahnhofsuhr zeigte 9 Uhr 15. Viertel nach neun, und er saß noch nicht hinter seinem Schreibtisch! Was würden die Kollegen sagen? Was der Chef? „Herr Kalk, Sie kommen zu spät, nachdem Sie erst gestern eine Urkunde bekamen?“

Kopflos rannte er den Bahnsteig entlang. In seiner Hast stol­perte er über einen abgestellten Koffer, kam zu nahe an die Bahnsteigkante, trat ins Leere und stürzte hinunter auf die Schie­nen. Noch während des Sturzes wußte er: Alles ist aus. Dies ist der Bahnsteig vier, folglich fährt hier in diesem Augenblick der 9-Uhr-16-Zug ein, Zugnummer 1072, planmäßige Weiterfahrt 9 Uhr 21. Ich bin tot!

Er wartete eine Weile, aber nichts geschah. Und da er offensichtlich immer noch lebte, stand er verdattert auf, kletterte auf den Bahnsteig zurück und suchte einen Bahnbeamten. Als er ihn gefunden hatte, fragte er atemlos: „Der 9-Uhr-16! Was ist mit dem 9-Uhr-16-Zug?“ - „Der hat sieben Minuten Verspätung“, sagte der Beamte im Vorbeigehen. „Verspätung“, wiederholte Wilfried und nickte begreifend.

An diesem Tag ging Wilfried überhaupt nicht ins Büro. Am nächsten Morgen kam er erst um zehn Uhr und am übernächsten um halb zwölf. „Sind Sie krank, Herr Kalk?“ fragte der Chef erstaunt. „Nein“, sagte Wilfried. „Ich habe inzwischen nur festgestellt, daß Verspätungen von Vorteil sein können.“

6

Marion guckt aus dem Fenster

Susanne Kilian

Marion sitzt direkt unter dem Fenster an ihrem Tisch und macht Hausaufgaben. Es isi so die Zeit: nach dem Mittagessen, ab zwei bis ungefähr vier, halb fünf, je nachdem.

Manchmal guckt Marion durchs Fenster in den trüben, grauen Oktobernachmiltag. Und ab drei Uhr guckt sie immer öfter hoch, rüber zu dem Balkon vom Altersheim. Der liegt genau in ihrem Blickfeld. Die bunten Blumenkästen haben sie längst reingebracht. Der Balkon ist leer und glänzt dunkel vor Feuchtigkeit. Das ist jetzt schon der zweite Tag, wo sie nicht kommt. Sie - das ist die alte Frau aus dem Heim drüben. Marion nennt sie heimlich für sich „die Vogelalte“. Jeden Nachmittag im Herbst und Winter füttert sie die Vögel. Das läuft Tag für Tag gleich ab: Irgendwann zwischen drei und vier, immer zwischen drei und vier, nie früher und nie später, geht drüben die Balkontür auf. Eine dicke, alte Frau, auf zwei Stöcke gestutzt - sie hat jedesmal Schwierigkeiten, entweder mit den Stöcken oder mit der Türklinke - watschelt auf den Balkon. An ihrem unförmigen, dicken Körper hängen, krumm und nach innen gebogen, die Beine, als würden sie sich biegen unter dem Gewicht. Watscheln ist eigentlich ein lustiges Wort, aber Marion fällt kein anderes ein, das so genau den Gang der Frau beschreiben könnte. Aber es sieht nicht lustig aus, wie sie geht. Kein bißchen. Eher sehr beschwerlich.

Zuerst läuft die Frau auf dem Balkon hin und her. Langsam. Ganz langsam. Wie das Pendel einer riesigen Uhr. Hin-tick, nach links; her-tack, nach rechts. Nach einer Weile bleibt sie stehen. Direkt am Geländer. Sie hängt ihre beiden Stöcke daran und stützt sich darauf, hält sich fest und läßt sich vor, zurück, vor, zurück schaukeln. Dann lehnt sie nur noch vorn mit dem Bauch gegen das Geländer, läßt es los und kramt mit den Händen in ihren Mantel­taschen.

Marion hat sie noch nie in einem anderen Mantel gesehen: schwarz, oben ein kleiner Pelzkragen, mit drei riesigen, glänzen­den Knöpfen zugeknöpft. Und so altmodisch! Und nie hat Marion sie etwas anderes aus der Tasche rausholen sehen als die rote Plastiktüte. Sachte wird sie aufgewickelt. Ein Stück Brot kommt

zum Vorschein. Stückchen für Stückchen wird es mit zittrigen, runzligen Händen zerkrümelt und fliegt in eine aufgeregt flat­ternde, nickende, pickende Vogelversammlung. Tauben und Spat­zen zanken sich um das Brot. Und die Alte hört mittendrin auf und schaut ihnen zu. Dann verteilt sie sehr langsam und bedächtig die letzten Krümel. Das rote Plastiksäckchen wird zurückgesteckt. Jetzt läuft alles wieder genauso ab wie vorher, nur so, als liefe nun der Film rückwärts: Die Alte steckt den Beutel ein. Schaukelt vor, zurück am Geländer. Nimmt die Stöcke wieder. Läuft hin, her, hin. Und geht vom Balkon, wobei sie wieder Schwierigkeiten mit der Tür hat.

Und heute ist sie nicht da! Marion schaut nicht jeden Tag so genau nach ihr. Bloß wenn sie Langeweile hat, guckt sie ihr die ganze Zeit zu. Dann überlegt sie, ob die Frau wohl Kinder hat? Und wie viele? Wo die wohl wohnen? Ob sie überhaupt verheiratet war? Sicher war sie früher mal nicht so dick. Und vielleicht ein sehr schönes junges Mädchen. Bestimmt war sie mal so alt wie Marion, zehn. Und ein winziges Baby war sie auch mal. Jetzt ist sie dick und alt und ganz allein da auf dem Balkon.

Marion kann sich richtig vorstellen, wie sie beim Frühstück ihr Brot in das Plastiksäckchen schiebt. Bestimmt verstohlen und heimlich. Und wahrscheinlich lächelt sie ein bißchen dabei, weil sie daran denkt, wie sich am Nachmittag die Vögel drum streiten werden.

Vielleicht ist sie bloß krank. In einer Woche oder zwei, drei Wochen - bei alten Leuten dauert das ja immer länger, denkt Marion -, da wird sie wieder drüben stehen. Aber vier Wochen vergehen, sechs, acht.

Früher hat Marion nicht jeden Tag auf die Frau gewartet. Sie hat einwach nur gesehen, wie sie drüben stand, so, wie sie einen Bus oder einen Zug sehen würde, der an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit täglich eine Stunde steht.

Jetzt wartet Marion. Die Alte fehlt ihr. Sie hatte sich an ihren Anblick, an ihr Dasein gewöhnt Und die Alte hatte zu ihrer Umgebung gehört, ohne daß sie es richtig gemerkt hatte.

Nach einem Vierteljahr wartete Marion nicht mehr. Die Frau war nicht krank gewesen. Sie war gestorben. Hinter den Fensterscheiben drüben im Altersheim hatte Marion schon eine Neue gesehen. Zwischen den andern, die sie wie die Vogelalte nur vom Ansehen kannte. Die Neue fiel durch ihr schneeweißes Haar beson­ders auf.

Marion würde die Vogelalte nie, nie mehr sehen. Da erst fiel ihr ein, daß sie nicht mal wußte, wie die Frau geheißen hat. Keinen Namen wußte sie. Nie hatte sie ein Wort mit ihr gesprochen. Noch nicht mal zugewinkt hatte sie ihr. Dabei war es ihr jetzt, als wäre etwas, was sie sehr liebhatte, fortgegangen.

Sie dachte, die Frau mit den schneeweißen Haaren wird auch sterben. Sie sind alle bis zum Tod da drüben. Keine geht einfach so weg. Und immer kommen andere nach. Es war das erste Mal, daß sie zum Altersheim rüberguckte und so was dachte.

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