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PROSATEXTE

Schritte zur Erschließung des Prosatextes (sieh auch Anhang S. )

Inhaltliche Interpretation

  1. Einleitung und Titel

  1. Informieren Sie sich über den Autor und seine Werke.

  2. Bestimmen Sie die literarische Gattung des zu analysierenden Textes (des Auszuges)

  3. Betiteln Sie den Text in drei Varianten. Widerspiegeln Sie dabei jeweils:

  • das Ereignis, das hier dargestellt wird.

  • den Ort der Handlung.

  • die handelnden Personen.

  1. Erklären Sie, warum die Erzählung (der Auszug) eben so heißt.

  1. Das Erfassen des gegenständlichen Inhalts (Handlung, Gestalt, Milieu)

  1. Beschreiben Sie den Ort der Handlung (im engen und im weiten Sinne des Wortes).

  2. Beschreiben Sie die Zeit der Handlung (im engen und im weiten Sinne des Wortes).

Belegen Sie Ihre Meinung durch entsprechende Textstellen.

  1. Verfolgen Sie den Inhaltsablauf. Schildern Sie kurz (in 5-6 Sätzen) die Entwicklung der Handlung.

  2. Gliedern Sie den Text in einzelne Episoden und betiteln Sie sie:

  • mit eigenen Worten (Wort);

  • mit einem Zitat.

Beurteilen Sie: welche Episode steht im Mittelpunkt der Handlung? Welche Textstellen sind inhaltlich besonders schwerwiegend?

  • Geben Sie kurz den Inhalt jeder Episode wieder.

  1. Nennen Sie alle handelnden Personen. Was erfahren Sie aus dem Text über die handelnden Personen (expliziter Inhalt):

  • Charakterisieren Sie zusammenfassend die Hauptperson.

  • Zitieren Sie die Textstellen, die über die Hauptperson (die Hauptpersone) aussagen (über den Alter (wie alt sind sie oder sein mögen ), die soziale Lage, die Lebensweise, ihr Äußeres, Charakterzüge, den Gemütszustand, ihre Interessen (führen Sie Textbelege an).

  • Wie stellen Sie sich die handelnden Personen vor?

  • Was schließen Sie aus dem Text über die Tätigkeit der Hauptpersonen (impliziter Inhalt);

III Das Erfassen des geistigen Inhalts (Thema, Idee, Perspektivgestaltung, Autorenstandpunkt)

  1. Formulieren Sie das Thema und die Idee des gelesenen Textes.

  2. Interpretieren Sie die angegebenen Textstellen.

  3. Beantworten Sie die Fragen zur Erschließung des Inhalts:

  4. Erörtern Sie die pragmatische Bedeutung des Textes. Beantworten Sie folgende Fragen:

  • spricht der Text den Leser an?

    • welche Gefühle erweckt dieser Auszug?

    • welche Zitate beeindrucken Sie am meisten?

    • wie werden Sie diesen Text charakterisieren? Mit welchen Attributen

Sprachliche Interpretation

  1. Bestimmen Sie: in welche architektonischen Abschnitte lässt sich der Text gliedern? Ermitteln die jeweilige Redeform.

  2. Verfolgen Sie den Aufbau und die Besonderheiten der Dialoge.

  • Wie viel Dialoge gibt es insgesamt im Text?

  • Unterscheiden Sie explizite und implizite Dialoge.

  • Verwandeln Sie implizite Dialoge in explizite.

  1. Charakterisieren Sie die Hauptgestalten im Sprechstil.

  2. Stellen Sie alle Wörter und Wendungen zusammen, die bestimmte thematische Kreise bezeichnen (das Äußere des Helden; der Charakter des Helden; der Gemütszustand des Helden; Naturbeschreibung usw.)

  3. Teilen Sie die Lexik zur Charakteristik der handelnden Personen in stilistisch-neutrale und expressive (stilistisch-gefärbte) Wörter und Wendungen.

  4. Welche Rolle spielt die expressive Lexik? Erläutern Sie ihren Stilwert.

  5. Sammeln Sie aus dem Text alle Wörter, die das Zeitkolorit wiedergeben.

  6. Nennen Sie alle Fremdwörter. Bestimmen Sie, welche Rolle sie spielen.

  7. Suchen Sie alle sprachlichen Bilder. Charakterisieren Sie diese Stilfiguren.

HARALD HAUSER

Harald Hauser, geboren 1912, Publizist und Dramatiker, ist vor allem durch seinen Film und sein Schauspiel „Weißes Blut" bekannt. In der Novelle „Der illegale Casanova" vergegenwärtigt er dem Leser interessante Episoden aus dem Widerstandskampf in Frankreich.

DER ILLEGALE CASANOVA

Mit „Pardon, Mademoiselle, ist der Platz noch frei? Stört es Sie, wenn ich mich hier niederlasse?" und „Danke bestens, es geht schon", als sie ihren überdimensionalen Koffer wegen der schwarzen Aktentasche des höflichen Herrn im Gepäcknetz zur Seite rücken

wollte, hatte Aristide bereits alle Präliminarien hinter sich gebracht. Zigarette anbieten, Schokolade annehmen („aus der Schweiz, von einer Freundin, die im Roten Kreuz arbeitet"), einen Schluck heißen Kaffee aus der Thermosflasche der Schönen probieren, sie zu einem Schluck aus der eigenen Cognacflasche veranlassen, waren die nächsten Etappen, die der Lyon-Reisende mit äußerer Gelassenheit absolvierte. Ein wenig weniger gelassen war er — aber das bemerkte die Dame nicht—, als die deutsche Zugkontrolle die Papiere zu sehen wünschte. Aber der Blick des Sicherheitsoffiziers, der jedem unmissverständlich ausdrückte: im Grunde seid ihr alle Banditen und gehört ins KZ; auf eure Ausweise pfeif ich, ich kann sowieso nicht feststellen, ob sie echt oder gefälscht sind; und ich weiß, dass ihr nur auf den Tag lauert, an dem .wir aus Frankreich hinausge­schossen werden! — dieser unverhohlen misstrauische Blick fand in dem aufgeschlossenen freundlich-naiven Gesicht Aristides nichts, was seinen besonderen Ver­dacht hätte erregen können. Der Deutsche gab Aristide zwei Ausweise zurück, den eigenen und den seiner zarten Nachbarin.

„Entweder ist er Psychologe, oder ich bin ein Trottel", sagte Aristide, als er der Eigentümerin den Ausweis wieder gab, und fügte nach einer absichtlichen Pause, während der er einen schnellen Blick aus den Augenwinkeln der Schwarzhaarigen eingefangen hatte, hinzu: „Er hält uns für ein Paar."

Die Dame, von der galanten, leicht blasierten Gleichgültigkeit des Mannes beeindruckt, der neben ihr saß, las derweilen seinen Namen auf dem Ausweis, den er noch immer vor sich in der Hand hielt: Aristide Deligny, Ingenieur des ponts et chaussees. Sie ahnte nichts von seiner inneren Erregtheit, von seinem intensiven, lauernden, alles registrierenden Wachsein. „Seit wann verstehen Straßenbauingenieure etwas von Psychologie?" sagte sie nach einer Weile ohne Betonung.

Aristide antwortete sofort: „Die Alternative war ja, dass ich ein Trottel bin, dass jeder Ochse mein Innenleben von meiner Nasenspitze ablesen kann."

„Wie wünschen Sie, dass ich das verstehe?"

,,So, wie Sie es verstehen möchten — wenn ich schon wünschen darf."

„Und wie möchten Sie, dass ich es möchte?"

Jetzt erhob sich Aristide, ebenso verführt von ihrem Charme wie beglückt von der willkommenen Ablenkung, bot seiner Nachbarin mit einer leichten Verbeu­gung den Arm und bat sie, ihn in den Speisewagen zum Abendessen zu begleiten. Ob die Dame von der prompten Reaktion des jungen Mannes wirklich verblüfft war oder ob sie nur tat, als sei sie es, hätte Ari­stide in diesem Augenblick allerdings nicht sagen können; es schien ihm aber belanglos.

Im Speisewagen mussten die beiden warten, um Plätze zu bekommen. Über die Hälfte der Gäste wären deutsche Offiziere. Endlich wurden zwei Fensterplätze frei. Das Menü war mager, aber appetitlich serviert, und das glich bis zu einem gewissen Grad die fehlen­den Kalorien aus. Außerdem gab es seltsamerweise Kakao, und obgleich weder Aristide noch seine Begleiterin in Friedenszeiten jemals zu strohigem Kabeljaufilet Kakao getrunken hätten, taten sie es an diesem Abend mit Genuss und bestellten eine zweite Portion. Über das merkwürdige Menü und über ihre kindliche Freude daran mussten beide lachen. Ein paar Gäste wandten sich um, unter ihnen auch ein deutscher Offizier, dessen Gesicht indessen mehr Beunruhigung als strafenden Verweis ausdrückte. Die Tischnachbarin flüsterte Aristide, der wieder sein naiv-verständnisloses Gesicht aufgesetzt hatte; ins Ohr: „Man kann es verstehen, dass denen der Sinn für Humor vergangen ist, zumal sie keinen hatten!"

„Etwas verlieren, was man nicht besaß, das ist lustig ...!"

In diesem Augenblick wurde der Zug von einem Ruck gepackt, der alle Fahrgäste durcheinander rüttelte. Die spärliche Beleuchtung erlosch. Die Wagen zuckten noch zweimal und blieben stehen. Stimmengewirr, Fluchen, vor allem in deutscher Sprache, Stoßen und Drängeln und immer wieder die Worte: „'raus, alles 'raus!'.'— „In Deckung gehen!"

Aristide und seine Begleiterin befanden sich plötzlich draußen. Wie sie hinausgelangt waren, wussten sie selbst nicht. Jetzt lagen sie hinter der Böschung

und lauschten. Als Aristide das Wespengesumm heran­rasender Jagdmaschinen hörte, riss er seine Nachbarin mit beiden Armen vom Boden hoch und zog sie fort. Er rannte mit ihr etwa fünfzig Meter, bis das Maschinengewehrfeuer des ersten Tieffliegers auf den Zug nie­derzuprasseln begann. Beide warfen sich hin, Aristide drückte den Kopf der Frau tief ins Gras. Ein zweiter Tiefflieger jaulte heran, verschoss seine Garben und verschwand. Die Deutschen hatten ein Maschinengewehr in Stellung gebracht und ballerten gegen die Flugzeuge, aber das Schießen klang nicht überzeugend. Es wurde bald unterbrochen und versandete schließ­lich, obwohl die Flieger noch dreimal zurückkehrten. Dann war wieder Ruhe. Im Dreivierteldunkel der mondlosen Nacht sah man überall Gestalten sich erheben und dem Zug zustreben. Deutsche Kommandorufe wurden laut.

„Ich danke Ihnen, Monsieur Aristide."

„Wofür?"

„Sie scheinen Erfahrung zu haben mit solchen Angriffen, ich reise zum ersten Mal, seit es nur noch diese gemischten Züge gibt."

„Wie heißt du eigentlich?"

Längere Pause, während der die beiden langsam dem Zug entgegenstolperten und fast über einen Mann fielen, der sich gerade fluchend aufrichtete. Es war ein Franzose. „Wie lang brauchen diese Boches noch, um zu begreifen, dass ihr dreckiger Krieg verloren ist?"

Aristide antwortete dem Mann freundlich: „Sie haben Glück, mein Guter, dass ich Franzose bin; wenn ein Deutscher Sie gehört hätte, könnten Sie unserem schönen Frankreich Lebewohl sagen."

Der Alte brummelte: „Wär’ mir egal...“ und trottete zu seinem Waggon zurück.

Als Aristide der Fluchtgefährtin auf das hohe Trittbrett half, beugte sie sich zurück, kniff ihm die Nase, gerade so, dass es weh tat, ohne zu schmerzen, und sagte: „Ariane heiß' ich, Casanova."

Aristide wusste sofort, dass sie so wenig Ariane hieß wie er Aristide, aber dieses Wissen erzeugte keinen Verdacht in ihm.

  1. Analysieren Sie den Text dem Schema nach.

2. Was schließen Sie aus dem Text über die Tätigkeit der Hauptpersonen (impliziter Inhalt);

a) Wie entwickeln sich die Beziehungen zwischen Aristide und Ariane? Führen, Sie entsprechende Textstellen an.

b) Sind „Aristide" und „Ariane“ ihre echten Namen?

Beweisen Sie Ihre Stellungnahme.

c) Woraus können Sie über die illegale Tätigkeit von Artistide schließen? Geben Sie die Textstellen wieder, die darüber besagen.

6. Beantworten Sie folgende Fragen:

  • Warum war Aristide „weniger gelassen", als die deutsche Zugkontrolle kam?

  • Warum nannte Aristide den Deutschen einen Psychologen? Wie soll man das verstehen?

  • Warum steckte Aristide seinen Ausweis lange nicht weg?

  • Warum hat er seine Dame in den Speisewagen eingeladen? War sein Interesse für sie echt? Wie erweckte er ihr Interesse zu sich? Wie benahmen sich die beiden im Speisewagen? Warum?

3.Textstellen zur Interpretation

  • „Die Alternative war ja, dass ich ein Trotte bin, dass jeder Ochse mein Innenleben voll meiner Nasenspitze ablesen kann."

  • „Ein paar Gäste wandten sich um, unter ihnen auch ein deutscher Offizier, dessen Gesicht indessen mehr Beunruhigung als strafende Verweis ausdrückte."

  • „Man kann es verstehen, dass denen der Sir für Humor vergangen ist, zumal sie keine hatten!"

  • „Sie scheinen Erfahrung zu haben mit solchen Angriffen."

  • „Sie haben Glück, mein Guter, dass ich Franzose bin."

  • „Wär’ mir egal..."

4. Stellen Sie alle Wörter und Wendungen zusammen, die folgende thematische Kreise bezeichnen.

4.1. Thematischer Kreis (Bereich): Reise, Zug.

4.2. Thematischer Kreis: Speisewagen.

4.3. Thematischer Kreis: Bombenangriff.

4.4. Thematischer Kreis: das Äußere des Helden; der Charakter des Helden; der Gemütszustand des Helden.

4:5. Thematischer Kreis: Charakteristik der Heldin.

KURZGESCHICHTEN

San Salvador

PETER BICHSEL

Er hatte sich eine Füllfeder gekauft.

Nachdem er mehrmals seine Unterschrift, dann seine Initialen, seine Adresse, einige Wellenlinien, dann die Adresse seiner Eltern auf ein Blatt gezeichnet hatte, nahm er einen neuen Bogen, faltete ihn sorgfältig und schrieb: „Mir ist es hier zu kalt", dann „ich gehe nach Südamerika", dann hielt er inne, schraubte die Kappe auf die Feder, betrachtete den Bogen und sah, wie die Tinte eintrocknete und dunkel wurde (in der Papeterie garantierte man, dass sie schwarz werde), dann nahm er seine Feder erneut zur Hand und setzte noch großzügig seinen Namen Paul darunter.

Dann saß er da.

Später räumte er die Zeitungen vom Tisch, überflog dabei die Kinoinserate, dachte an irgend etwas, schob den Aschenbecher beiseite, zerriss den Zettel mit den Wellenlinien, entleerte seine Feder und füllte sie wieder. Für die Kinovorstellung war es jetzt zu spät.

Die Probe des Kirchenchores dauert bis neun Uhr, um halb zehn würde Hildegard zurück sein. Er wartete auf Hildegard. Zu all dem Musik aus dem Radio. Jetzt drehte er das Radio ab.

Auf dem Tisch, mitten auf dem Tisch, lag nun der gefaltete Bogen, darauf stand in blauschwarzer Schrift sein Name Paul.

„Mir ist es hier zu kalt", stand auch darauf.

Nun würde also Hildegard heimkommen, um halb zehn. Es war jetzt neun Uhr. Sie läse seine Mitteilung, erschräke dabei, glaubte wohl das mit Südamerika nicht, würde dennoch die Hemden im Kasten zählen, etwas müsste ja geschehen sein.

Sie würde in den „Löwen" telefonieren.

Der „Löwen" ist mittwochs geschlossen.

Sie würde lächeln und verzweifeln und sich damit abfinden, vielleicht.

Sie würde sich mehrmals die Haare aus dem Gesicht streichen, mit dem Ringfinger der linken Hand beidseitig der Schläfe entlangfahren, dann langsam den Mantel auf­knöpfen.

Dann saß er da, überlegte, wem er einen Brief schreiben könnte, las die Gebrauchs­anweisung für den Füller noch einmal - leicht nach rechts drehen - las auch den franzö­sischen Text, verglich den englischen mit dem deutschen, sah wieder seinen Zettel, dachte an Palmen, dachte an Hildegard.

Saß da.

Und um halb zehn kam Hildegard und fragte: „Schlafen die Kinder?"

Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht.

Textuntersuchung

1. Erzählen Sie den Inhalt des Textes nach!

2. Bestimmen und begründen Sie die Verhaltensweise Pauls!

3. Von welchen Erwartungen wird Paul erfüllt?

4. Wie werden Wirklichkeit und Möglichkeiten im Text ausgedrückt?

5. Wie beurteilen Sie das Verhältnis von Paul und Hildegard?

6. Warum hat die Erzählung den Titel „San Salvador"?

7. Erörtern Sie, aus welchen Gründen heute Menschen aus gesellschaftlichen und menschlichen Beziehungen fliehen wollen?

8. Schreiben Sie einen Aufsatz (Gliederung) mit dem Thema: „Ehe oder freiwilliges Alleinleben (Single)"? - Begründen Sie Ihre Meinung!

9.Übersetzen Sie ins Deutsche und interpretieren Sie folgende Sätze.

  • Как бы мы не грезили морями и пляжами, 99% из нас помрут в том же климате, в котором живут.

  • Только вот цена лишнего шага к этой великой пальмовой мечте может стоить весьма и весьма дорого.

  • В погоне за призрачным светлым будущим мы лишаем себя полноценной жизни и что не менее важно - отнимаем себя у близких людей.

Zwei Männer

GÜNTER WEISENBORN

Als der Wolkenbruch, den sich der argentinische Himmel damals im Februar lei­stete, ein Ende gefunden hatte, stand das ganze Land unter Wasser. Und unter Wasser standen die Hoffnungen des Pflanzens von Santa Sabina. Wo ein saftgrünes Vermögen in Gestalt von endlosen Teefeldern mit mannshohen Yerbabüschen gestanden hatte, dehnte sich morgens ein endloses Meer.

Der Farmer war vernichtet, das wusste er. Er saß auf einer Maiskiste neben seinem Haus und zählte die fetten Blasen, die an seine Schuhe trieben und dort zerplatzten. Das Maisfeld glich einem See. Der Rancho1 des Peons2 war darin verschwunden. Sein Schilfdach trieb im Strom davon, eine nickende Straußenleiche vor sich herschie­bend. Der Peon hatte sich zu seinem Herrn geflüchtet und saß neben ihm. Er war ein Indio, der mit breitem, eisernem Gesicht ins Leere starrte. Seine Frau war ertrunken, als sie sich losließ, um ihre Hände zur Madonna3 zu erheben. Der Peon hatte drei Blasen gezählt. Ihre Hand hatte die letzte Blase erschlagen.

Der Farmer hatte seine Frau in der Stadt. Sie würde vergeblich auf seinen Schritt vor der Tür warten. Denn der Farmer gab sich noch eine Nacht.

Es ist unter Männern Brauch, dass man sich in gewissen Lagen die letzte Zigarette teilt. Der Farmer, im Begriff, nach Mannes Art zu handeln, wurde von seinem Peon unterbrochen. „Herr!" rief der Indio, „der Paraná! Der Strom kommt! ..." Er hatte recht. Man hörte in der Ferne ein furchtbares Donnern. Der Paraná, angeschwollen von Wasser und Wind, brach in die Teeprovinzen ein, Paraná, das heißt der größte Strom Argentiniens. Dieses Donnern war das Todesurteil für die Männer von Santa Sabina. Sie verstanden sich auf diese Sprache, die Männer. Sie hatten tausendmal dem Tod ins Auge gesehen.

Sie hatten das Weiße im Auge des Pumas gesehen und der Korallenschlange ins kalt strahlende Gesicht. Sie hatten dem Jaguar gegenübergestanden und der großen Kobra, die sich blähte. Sie hatten alle diese Begegnungen für sich entschieden; denn ihr Auge war kalt und gelassen ihre Hand.

Jetzt aber halfen keine Patronen und kein scharfes Auge. Dieser Feind hier, das Wasser, war bösartig wie hundert Schlangen, die heran zischten und todesdurstig wie der größte Puma auf dem Ast. Man konnte das Wasser schlagen, es wuchs. Man konnte hineinschießen, es griff an. Es biss nicht, es stach nicht, das Wasser, es suchte sich nur mit kalten Fingern eine Stelle am Mann, seinen Mund, um ihn anzufüllen, bis Blasen aus der Lunge quollen. Das Wasser war gelb und lautlos. Und man sah vor Regen den Himmel nicht.

Auf einer kleinen Insel, halb unsichtbar in der triefenden Finsternis, saß der Farmer mit seinem Peon vor seinem Haus.

Dann kam der große Paraná. Er kam nicht mit Pauken und Posaunen. Nein, man merkte ihn gar nicht. Aber plötzlich stand der Schuh des Farmers im Wasser. Er zog ihn zurück. Aber nach einer Weile stand der Schuh wieder im Wasser, weiß der Teufel... Und wenn man die Maiskiste zurücksetzte, so musste man sie bald noch ein wenig zurücksetzen, denn kein Mann sitzt gern im Wasser.

Das war alles, aber das war der Paraná.

Gegen Abend fiel das Hühnerhaus um. Man hörte das halberstickte Kreischen der Vögel, dann war es wieder still. Später zischte es plötzlich im Wohnhaus auf, denn das Wasser war in den Herd gedrungen.

Als es dunkel wurde, standen der Farmer und sein Peon bereits bis zum Bauch im Wasser. Sie kletterten auf das Schilfdach. Dort auf dem Gipfel saßen sie schweigend, dunkle Schatten in der dunkelsten aller Nächte, indes Töpfe und Kästen aus den Häusern hinausschwammen. Ein Stuhl stieß unten das Glasfenster in Scherben. Das Wasser rauschte. Die Blasen platzten. Ein totes Huhn schwamm im Kreise vor der Haustür.

Als das Wasser das Dach erreicht hatte, stieß es die Hausmauern nachlässig um. Das Dach stürzte von den gebrochenen Pfosten, schaukelte und krachte, dann drehte es sich um sich selbst und trieb in die rauschende Finsternis hinaus. Das Dach ging einen lan­gen Weg. Es fuhr kreisend zu Tal. Es trieb am Rande der großen Urwälder vorbei. Es segelte durch eine Herde von Rindern, die mit himmelwärts gestreckten Beinen toten­still auf dem wirbelnden Wasser trieben. Glotzäugige Fische schössen vor dem Schat­ten des Daches davon. Schwarze Aasgeier trieben, traubenweise an ein Pferd gekrallt, den Strom hinab. Sie blickten mordlustigen Auges herüber . . . Blüten, Möbel und Leichen vereinigten sich zu einem Zug des Todes, der talwärts fuhr, einem un­durchsichtigen Ende entgegen. Gegen Morgen richtete sich der Farmer auf und befahl seinem Peon, nicht einzuschlafen. Der Indio verwunderte sich über die harte Stimme seines Herrn.

Er wäre bedenkenlos dem Farmer um die Erde gefolgt. Er war Indio und wusste, was ein Mann ist. Aber er wusste auch, dass ein Mann ein schweres Gewicht hat. Wenn nur ein Mann auf dem Dach sitzt, so hält es natürlich länger, nicht wahr, als wenn es unter dem schweren Gewicht zweier Männer auseinanderbricht und versinkt. Und dann gute Nacht...

Er glaubte nicht, dass der Farmer gutwillig das Dach verlassen würde, aber man könnte ihn hinunterkippen, denn es ging hier um Leben und Tod. Das dachte der Indio, und er rückte näher. Sein Gesicht war steinern, es troff vor Regen. Das Dach würde auf keinen Fall mehr bis zum Morgen schwimmen. Jetzt schon brachen einzelne Bündel ab und schwammen nebenher. Die Männer mitten auf dem furchtbaren Strom wussten nicht, wo sie waren. Dichter Nebel fuhr mit ihnen. Ringsum das Wasser schien still zu stehen. Fuhren sie im Kreis? Sie wussten es nicht. Sie sahen sich an. Da folgte der Farmer dem Brauch aller Männer, zog seine letzte Zigarette, brach sie in zwei Teile und bot dem Indio eines an. Sie rissen das Papier ab und kauten den Tabak, da sie kein Feuer hatten.

Er ist ein guter Kamerad, dachte der Peon. Es hat keinen Zweck. Es soll alles seinen Weg gehen. Als er den würzigen Geschmack des Tabaks fühlte, wurde aus der Feindschaft langsam ein Gefühl der Treue. Was willst du? Der Peon hatte seine Frau verloren und sein Kind. Sie hatte die letzte Blase ihres Atems mit ihrer Hand zerschlagen. Er hatte nichts mehr, was ihn zu leben verlockte. Das Schilfdach sank immer tiefer. Wenn er selbst ins Wasser sprang, hielt das Dach vielleicht noch und trug seinen Herrn bis zum Morgen.

Der Dienst ist aus, adios, Senior! Der Peon kletterte über den Giebel bis an den Rand des Daches, als er plötzlich im dunklen Wasser Kaimane4 rauschen sah, Jaquares, die ihn aufmerksam anstarrten. Zum ersten Mal verzog der Indio sein Gesicht, dann hielt er den Atem an und sprang. Aber er wurde im selben Moment von seinem Herrn gehalten, der ihn wieder aus dem Wasser zog und seinen Peon zornglühend anschrie. Kreideweiß, mit rotgeränder­ten Augen und triefenden Haaren, beugte sich der Farmer über ihn, nannte ihn den Vater allen Unsinns und rüttelte ihn. Dann befahl er ihm, seinen Platz einzunehmen und den Mut nicht zu verlieren, verdammt noch mal!

Gegen Morgen trieben sie an Land, sprangen über Baumäste und wateten sie stundenlang, bis sie ins Trockene kamen. Sie klopften den Boden mit Stöcken nach Schlangen ab, und ehe sie sich zum Schlafen in das Maisfeld legten, sagte der Farmer:

„Morgen gehen wir zurück und fangen wieder an."

„Bueno5", sagte der Indio. Der Regen hörte auf.

1 spanisch: Hütte

2 spanisch: Landarbeiter, Knecht

3 Gottesmutter

4 Panzerechsen, "dem Krokodil verwandt

5 spanisch: gut, einverstanden

Textuntersuchung und Sprachbetrachtung*

1. Was will der Dichter mit dieser Kurzgeschichte sagen?

2. Worin unterscheiden sich die beiden Männer?

3. Welchen symbolischen Wert hat das Teilen der letzten Zigarette?

4. Geben Sie kurz wieder, wie (Sprache, Stilmittel) der Autor diese grauenhafte Naturkatastrophe in Argentinien beschrieb!

DAS WUNDER DER SPRACHE

WALTER PORZIG

Was veranlasst uns Menschen, zu sprechen? Was bringt die kleinen Kinder dazu, in erstaunlicher geistiger Anspannung die Sprache zu erwerben? Was zwingt viele Erwachsene, mit Mühe, Zeit und Kosten fremde Sprachen zu lernen? Nichts anderes, als die praktischen Bedürfnisse des Lebens. Wir wollen etwas von anderen Menschen, die Kinder wünschen ihre Umgebung in ihrem Sinne zu beeinflussen, viele von uns müssen Menschen fremder Sprache veranlassen, ihre Anliegen zu erfüllen. Und es gibt kein wirksameres Mittel, diese Zwecke zu erreichen, als die Sprache, und zugleich keines, das seinen Zweck mit so geringem Kraftaufwand erreichte. Gewiss, auch ein Hund versteht es, einen Menschen zu veranlassen, eine Tür zu öffnen, die der Hund selbst nicht aufbekommt. Die Bärenmutter veranlasst ihre Jungen, das notwendige Bad zu nehmen, indem sie sie einfach ins Wasser wirft. Die Glucke lockt ihre Küchlein unter ihre Flügel, wenn sie eine Gefahr ahnt. Aber wie begrenzt sind diese Möglich­keiten, wie gebunden an eine einfache Lage und an die Bereitschaft zum Verständnis, die bei den andern Beteiligten erforderlich ist! Der Hund kann seinen Herrn nicht dazu bringen, statt über Feld in den Wald zu gehen, wenn Feld und Wald nicht un­mittelbar vor ihnen liegen. Die Bärin kann die Jungen nur zum Baden zwingen, wenn sie sich mit ihnen am Rande des Beckens befindet. Und die Glucke kann ihre Küchlein nicht in den sicheren Schuppen schicken, wenn sie sich selbst nicht hinbegibt. Hund und Bärin und Glucke müssen dabei ihren ganzen Körper zum Teil in sehr heftige Bewegung setzen, um ihren Willen zu erreichen. Ganz anders der sprechende Mensch. Er bewegt wenige Muskelgruppen, erzeugt dadurch Laute und kann so andere Menschen zu den verwickeltsten Handlungen veranlassen, nicht nur hier und jetzt, sondern an entfernten Orten und in irgendeiner Zukunft.

Das ist die erste und unmittelbarste Leistung der Sprache, die wir erleben, dass sie uns gestattet, in die Wirklichkeit einzugreifen mit einem sehr geringen Aufwand an Kraft und doch mit einer hochgesteigerten Wirksamkeit, so dass dem Sprechenden grundsätzlich die Kräfte der ganzen Sprachgemeinschaft zu Gebote stehen.

Das Eingreifen in die Wirklichkeit geschieht in erster Linie dadurch, dass ein anderer Mensch beeinflusst wird, der die sprachliche Äußerung versteht. Das ist die Aufforde­rung, eine der ursprünglichen Leistungen der Sprache. Die Formen der Aufforderung sind sehr mannigfaltig und reichen vom kurzen Zuruf, der kaum mehr ist als eine laut gewordene Gebärde, bis zum ausführlichen Befehl, der verwickelte Handlungen für die Zukunft vorschreibt. Besonders bemerkenswert aber ist, dass jede Aufforderung ihrem Wesen nach abgestuft ist, abgestuft in Nachdruck und Verbindlichkeit. Das geschieht erstens durch die Zufügung von Höflichkeitsformeln, von denen unser „bitte!" das nächstliegende Beispiel ist. Entsprechendes findet sich in allen modernen Sprachen. Durch die Existenz von Höflichkeitsformeln nehmen Aufforderungen ohne solche einen unverbindlichen „dienstlichen" Charakter an. Das beruht aber nur auf dem Gegensatz. Wo die Höflichkeitsformel nicht üblich ist, hat auch die reine Aufforderung nichts Unverbindliches.

Es gibt aber auch Aufforderungen, die sich nicht an einen andern Menschen richten, sondern an die Sachen selbst, die also in die Wirklichkeit ganz unmittelbar eingreifen sollen, nicht durch die Vermittlung von Menschen. Das sind die echten Verwünschungen und Segenssprüche. In unserm heutigen Leben sind Segen und Fluch bloße Wünsche, Entladungen einer gespannten seelischen Lage. Das ist eine andere Leistung der Sprache als die, die hier gemeint ist; von ihr wird nachher die Rede sein. Aber ursprünglich sollen Segen und Fluch wirklich die Welt verändern, Heil oder Unheil hervorbringen. Für die Leistung der Sprache ist es gleichgültig, ob der Glaube an solche Wirkungen irrig ist oder nicht. Der Sprechende verfügt jedenfalls über Formen, die eine derartige unmittelbare Aufforderung an die sachliche Wirklichkeit enthalten. Und bis mitten in unsere Gegenwart hinein erhält sich in voller religiöser Bedeutung die verwandelnde Kraft des Wortes, des geformten Ausspruchs, im Messopfer.

Aber die Sprache greift noch in anderer Weise in die Wirklichkeit ein als in Gestalt der Aufforderung. Der geformte Ausspruch ist ja selbst eine Tatsache, ein Bestandteil der Wirklichkeit, und es gibt Lagen, die gerade durch ihn geschaffen, in ihrer Eigenart und Gültigkeit bestimmt werden. Wenn der Richter verkündet: „Der Angeklagte wird freigesprochen", so teilt er nicht dem Angeklagten oder der Öffentlichkeit den Frei­spruch mit, sondern das Aussprechen dieser Formel ist selbst der Freispruch, der eben darum Freisprach" heißt. Ebenso stiftet die Formel des Standesbeamten „Hiermit erkläre ich Sie kraft Gesetzes für rechtmäßig verbundene Eheleute" die Ehe, schafft also eine für die beiden Menschen und ihre Nachkommen entscheidende Wirklichkeit. Auch der Privatmann bedient sich der Sprache zu solchem Zweck. Auf verschiedene Angebote des Kaufmanns erwidert der Kunde „Ich nehme fünf Pfund zu zwei Mark" und schließt damit den Kauf ab. Weitere Beispiele stehen einem jeden in Menge zur Verfügung. Wir nennen diese Leistung der Sprache Feststellung.

Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Feststellung hat eine sprachliche Leistung, die sich aber ganz im Bereich des Sprechenden selbst hält. Das ist der Entschluss. Wenn ich sage „Ich will mir eine Schreibmaschine kaufen", so kann das freilich eine Mitteilung an einen Bekannten sein. Aber der Ausspruch braucht gar nicht an einen zweiten gerichtet, braucht überhaupt nicht in Gegenwart eines anderen getan zu werden. Er kann das Ergebnis einer längeren Erwägung sein, das ich damit für mich selbst festlege. Ich bin zu einem Entschluss gekommen und fasse ihn in der Weise, dass ich ihn sprachlich formuliere. Entschluss und Aussprach decken sich. Der Aussprach ist die Form, in der sich in meinem Bewusstsein der Entschluss vollzieht.

Textuntersuchung und Textgestaltung

1. Stellen Sie die Aussagen der Textabschnitte thesenhaft zusammen!

2. Was ist Sprache?

3. Fügen Sie den Beispielen für die einzelnen Thesen eigene hinzu!

4. Welche der Sprachfunktionen fehlt in diesem Textausschnitt? (Anhang)

5. Nennen Sie für diese eigenen Beispiele!

6.Vergleichen Sie die gesamten Aussagen mit dem Kommunikationsmodell! (Anhang)

7. Was leistet Sprache überhaupt (Alltag, Beruf, usw.)?

Ein Tisch ist ein Tisch

PETER BICHSEL

Ich will von einem alten Mann erzählen, von einem Mann, der kein Wort mehr sagt, ein müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu müd, um böse zu sein. Er wohnt in einer kleinen Stadt, am Ende der Straße oder nahe der Kreuzung. Es lohnt sich fast nicht, ihn zu beschreiben. Kaum etwas unterscheidet ihn von andern. Er trägt einen grauen Hut, graue Hosen, einen grauen Rock und im Winter den langen grauen Mantel, und er hat einen dünnen Hals, dessen Haut trocken und runzelig ist, die weißen Hemd­kragen sind ihm viel zu weit.

Im obersten Stock des Hauses hat er sein Zimmer, vielleicht war er verheiratet und hatte Kinder, vielleicht wohnte er früher in einer andern Stadt. Bestimmt war er einmal ein Kind, aber das war zu einer Zeit, wo Kinder wie Erwachsene angezogen waren. Man sieht sie so im Fotoalbum der Großmutter. In seinem Zimmer sind zwei Stühle, ein Tisch, ein Teppich, ein Bett und ein Schrank. Auf einem kleinen Tisch steht ein Wecker, daneben liegen alte Zeitungen und das Fotoalbum, an der Wand hängen ein Spiegel und ein Bild.

Der alte Mann machte morgens einen Spaziergang und nachmittags einen Spazier­gang, sprach ein paar Worte mit seinem Nachbarn, und abends saß er an seinem Tisch.

Das änderte sich nie, auch sonntags war das so. Und wenn der Mann am Tisch saß, hörte er den Wecker ticken, immer den Wecker ticken.

Dann gab es einmal einen besonderen Tag, einen Tag mit Sonne, nicht zu heiß, nicht zu kalt, mit Vogelgezwitscher, mit freundlichen Leuten, mit Kindern, die spielten - und das Besondere war, dass das alles dem Mann plötzlich gefiel.

Er lächelte.

Jetzt wird sich alles ändern", dachte er. Er öffnete den obersten Hemdknopf, nahm den Hut in die Hand, beschleunigte seinen Gang, wippte sogar beim Gehen in den Knien und freute sich. Er kam in seine Straße, nickte den Kindern zu, ging vor sein Haus, stieg die Treppe hoch, nahm die Schlüssel aus der Tasche und schloss sein Zimmer auf.

Aber im Zimmer war alles gleich, ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett. Und wie er sich hinsetzte, hörte er wieder das Ticken, und alle Freude war vorbei, denn nichts hatte sich geändert.

Und den Mann überkam eine große Wut.

Er sah im Spiegel sein Gesicht rot anlaufen, sah, wie er die Augen zukniff, dann ver­krampfte er seine Hände zu Fäusten, hob sie und schlug mit ihnen auf die Tischplatte, erst nur einen Schlag, dann noch einen, und dann begann er auf den Tisch zu trommeln und schrie dazu immer wieder: „Es muss sich ändern, es muss sich ändern!"

Und er hörte den Wecker nicht mehr. Dann begannen seine Hände zu schmerzen, seine Stimme versagte, dann hörte er den Wecker wieder, und nichts änderte sich.

„Immer derselbe Tisch", sagte der Mann, „dieselben Stühle, das Bett, das Bild. Und dem Tisch sage ich Tisch, dem Bild sage ich Bild, das Bett heißt Bett, und den Stuhl nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich?" Die Franzosen sagen dem Bett „li", dem Tisch „tabl", nennen das Bild „tablo" und den Stuhl „schäs", und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch.

„Weshalb heißt das Bett nicht Bild", dachte der Mann und lächelte, dann lachte er, lachte, bis die Nachbarn an die Wand klopften und „Ruhe" riefen.

„Jetzt änderte es sich", rief er, und er sagte von nun an dem Bett „Bild".

„Ich bin müde, ich will ins Bild", sagte er, und morgens blieb er oft lange im Bild lie­gen und überlegte, wie er nun dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl „Wecker".

Er stand also auf, zog sich an, setzte sich auf den Wecker und stützte die Arme auf den Tisch. Aber der Tisch hieß jetzt nicht mehr Tisch, er hieß jetzt Teppich. Am Morgen verließ also der Mann das Bild, zog sich an, setzte sich an den Teppich auf den Wecker und überlegte, wem er wie sagen könnte.

Dem Bett sagte er Bild. Dem Tisch sagte er Teppich. Dem Stuhl sagte er Wecker. Der Zeitung sagte er Bett. Dem Spiegel sagte er Stuhl. Dem Wecker sagte er Fotoalbum. Dem Schrank sagte er Zeitung, Dem Teppich sagte er Schrank. Dem Bild sagte er Tisch. Und dem Fotoalbum sagte er Spiegel.

Also: Am Morgen blieb der alte Mann lange im Bild liegen, um neun läutete das Fotoalbum, der Mann stand auf und stellte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Füße fror, dann nahm er seine Kleider aus der Zeitung, zog sich an, schaute in den Stuhl an der Wand, setzte sich dann auf den Wecker an den Teppich und blätterte den Spiegel durch, bis er den Tisch seiner Mutter fand.

Der Mann fand das lustig; und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Mann mehr, sondern ein Fuß, und der Fuß war ein Morgen und der Morgen ein Mann.

Jetzt könnt ihr die Geschichte selbst weiterschreiben. Und dann könnt ihr, so wie es der Mann machte, auch die anderen Wörter austauschen: läuten heißt stellen, frieren heißt schauen, liegen heißt häuten, stehen heißt frieren, stellen heißt blättern.

So daß es dann heißt: Am Mann blieb der alte Fuß lange im Bild läuten, um neun stellte das Fotoalbum, der Fuß fror auf und blätterte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Morgen schaute.

Der alte Mann kaufte sich blaue Schulhefte und schrieb sie mit den neuen Wörtern voll, und er hatte viel zu tun damit, und man sah ihn nur noch selten auf der Straße. Dann lernte er für alle Dinge die neuen Bezeichnungen und vergaß dabei mehr und mehr die richtigen. Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz allein gehörte. Hie und da träumte er schon in der neuen Sprache, und dann übersetzte er die Lieder aus seiner Schulzeit in seine Sprache, und er sang sie leise vor sich hin.

Aber bald fiel ihm auch das Übersetzen schwer, er hatte seine alte Sprache fast ver­gessen, und er musste die richtigen Wörter in seinen blauen Heften suchen. Und es machte ihm Angst, mit den Leuten zu sprechen. Er musste lange nachdenken, wie die Leute zu den Dingen sagen.

Seinem Bild sagen die Leute Bett. Seinem Teppich sagen die Leute Tisch. Seinem Wecker sagen die Leute Stuhl. Seinem Bett sagen die Leute Zeitung. Seinem Stuhl sagen die Leute Spiegel. Seinem Fotoalbum sagen die Leute Wecker. Seiner Zeitung sagen die Leute Schrank. Seinem Schrank sagen die Leute Teppich. Seinem Tisch sagen die Leute Bild. Seinem Spiegel sagen die Leute Fotoalbum.

Und es kam so weit, dass der Mann lachen musste, wenn er die Leute reden hörte. Er musste lachen, wenn er hörte, wie jemand sagte: „Gehen Sie morgen auch zum Fußball­spiel?" Oder wenn jemand sagte: Jetzt regnet es schon zwei Monate lang." Oder wenn jemand sagte: „Ich habe einen Onkel in Amerika."

Er musste lachen, weil er all das nicht verstand. Aber eine lustige Geschichte ist das nicht. Sie hat traurig angefangen und hört traurig auf. Der alte Mann im grauen Mantel konnte die Leute nicht mehr verstehen, das war nicht so schlimm. Viel schlimmer war, sie konnten ihn nicht mehr verstehen. Und deshalb sagte er nichts mehr. Er schwieg, sprach nur noch mit sich selbst, grüßte nicht einmal mehr.

Textuntersuchung und Sprachbetrachtung

1. Wie ist der alte Mann charakterisiert, wie ist das Zimmer beschrieben?

2. Auf welche Weise führt er eine „Veränderung" in seinem Leben durch?

3. Versuchen Sie anhand dieser Veränderung zu erklären, was Sprache ist! (Anhang)

4. Stellen Sie Phasen der „Kommunikationsstörungen" fest! (Anhang)

5. Warum ist dies keine „lustige Geschichte"?

Sprachliche Übungen

1. Kommen Sie der Aufforderung des Schriftstellers nach, und tauschen Sie die anderen Wörter aus!

2. Erfinden Sie in Abwesenheit einiger Mitschüler in Ihrer Klasse neue Bezeichnungen für Gegenstände, und bilden Sie Sätze, welche von den Mitschülern decodiert werden müssen! (Anhang)

3. Diskutieren Sie, bei welchen Personen, in welchen Bereichen und auf welche Weise „Sprachbarrieren" auftreten können!

Drei Mann in einem Boot

JEROME K. JEROME

Zwei Studenten, Gäste einer größeren Abendgesellschaft, überreden einen deutschen Professor namens Slossen Boschen, ein Lied zu singen. Vor seiner Ankunft haben sie den anderen Gästen bereits erklärt, daß es mit diesem Lied eine ganz eigene Bewandtnis hat…

Sie sagten, es sei so zum Lachen, daß, als Herr Slossen Boschen es einmal vor dem deutschen Kaiser sang, er, der deutsche Kaiser lachend ins Bett getragen werden mußte. Sie sagten, niemand könne es so wie Herr Slossen Boschen singen und er bliebe die ganze Zeit so todernst, daß man glauben würde, er rezitiere eine Tragödie, und das mache die Sache natürlich noch viel lustiger. Sie sagten, daß er auch nicht ein einziges Mal durch seinen Ton oder sein Gebaren erkennen ließ, daß er etwas Lustiges sang -denn das würde den Spaß verderben. Es sei sein ernstes, fast pathetisches Gehabe, das das Ganze so unwiderstehlich amüsant mache.

Herr Slossen Boschen kommt, setzt sich ans Klavier, und die beiden Studenten stellen sich unauffällig hinter seinem Rücken auf. Er beginnt zu singen . . .

Ich verstehe kein Deutsch. Trotzdem wollte ich aber nicht, daß die anderen Gäste meine Ignoranz bemerkten; und so kam mir eine Idee, die mir recht gut schien. Ich hielt die beiden jungen Studenten im Auge und folgte ihnen. Wenn sie kicherten, kicherte ich auch; wenn sie vor Lachen brüllten, brüllte ich auch; und hier und da warf ich selbst ein kleines Kichern ein, als hätte ich etwas Humorvolles entdeckt, das den anderen entgangen war. Dies hielt ich für besonders geschickt.

Im Verlauf des Liedes bemerkte ich, daß die anderen Leute, genau wie ich, die beiden jungen Männer im Auge zu halten schienen. Diese anderen Leute kicherten ebenfalls, wenn die jungen Leute kicherten und brüllten vor Lachen, wenn die jungen Männer brüllten; und da die beiden jungen Männer fast während des ganzen Liedes kicherten und brüllten und sich fast totlachten, ging alles bestens.

Doch der Professor scheint unzufrieden zu sein. Zuerst gibt er sich über das Gelächter überrascht, dann beginnt er, wütend um sich zu blicken, und in der letzten Strophe überbietet er sich selbst mit einem Ausdruck solchen Ingrimms, daß die Zuhörer sehr nervös geworden wären, hätten die beiden Studenten sie nicht vorher darauf vorbereitet. Und so endet der Professor unter dem wiehernden Gelächter der Gäste.

Dann aber stand Herr Slossen Boschen auf und legte los. Er verfluchte uns auf Deutsch (das mir eine dafür besonders geeignete Sprache zu sein scheint), und er tanzte und fuchtelte mit seinen Fäusten und nannte uns das ganze Englisch, das er wußte. Er sagte, daß er Zeit seines Lebens nicht so beleidigt worden war.

Es stellte sich heraus, daß das Lied gar kein komisches Lied war. Es handelte von einem jungen Mädchen, das im Harz lebte und das sein Leben für die Seele seines Geliebten geopfert hatte . . .

Textuntersuchung

1. Geben Sie den Inhalt der Erzählung wieder!

2. Beschreiben Sie die Verhaltensweisen der Personen!

3. Wie erfährt Boschen seine Umgebung?

4. Aus welchen Gründen kommt es zu „Kommunikationsstörungen"? (Anhang)

5. Wie werden Komik und Gelächter erzeugt?

6. Unterscheiden Sie zwischen Komik, Witz und Humor!

7. Erzählen Sie einen Witz und begründen Sie, warum manche Ihrer Mitstudenten nicht lachen!

Die Probe

HERBERT MALECHA

Redluff sah, das schrille Quietschen der Bremsen noch in den Ohren, wie sich das Gesicht des Fahrers ärgerlich verzog. Mit zwei taumeligen Schritten war er wieder auf dem Gehweg. „Hat es Ihnen was gemacht?" Er fühlte sich am Ellbogen angefaßt. Mit einer fast brüsken Bewegung machte er sich frei. „Nein, nein, schon gut. Danke", sagte er noch, beinah schon über die Schulter, als er merkte, daß ihm der Alte nachstarrte.

Eine Welle von Schwäche stieg von seinen Knien auf, wurde fast zur Übelkeit. Das hätte ihm gerade gefehlt, angefahren auf der Straße liegen, eine gaffende Menge und dann die Polizei. Er durfte jetzt nicht schwach werden, nur weiterlaufen, unauffällig weiterlaufen zwischen den vielen auf der hellen Straße. Langsam ließ das Klopfen im Halse nach. Seit drei Monaten war er zum ersten Mal wieder in der Stadt, zum ersten Mal wieder unter so vielen Menschen. Ewig konnte er in dem Loch sich ja nicht verkriechen, er mußte einmal wieder raus, wieder Kontakt aufnehmen mit dem Leben, überhaupt raus aus allem. Ein Schiff mußte sich finden lassen, möglichst noch, bevor es Winter wurde. Seine Hand fuhr leicht über die linke Brustseite seines Jacketts, er spürte den Paß, der in der Innentasche steckte; gute Arbeit war dieser Paß, er hatte auch nicht schlecht dafür bezahlt.

Die Autos auf der Straße waren zu einer langen Kette aufgefahren. Nur stockend schoben sie sich vorwärts. Menschen gingen an ihm vorbei, kamen ihm entgegen; er achtete darauf, daß sie ihn nicht streiften. Einem Platzregen von Gesichtern war er aus­gesetzt, fahle Ovale, die sich mit dem wechselnden Reklamelicht verfärbten. Redluff strengte sich an, den Schritt der vielen anzunehmen, mitzuschwimmen in dem Strom. Stimmen, abgerissene Gesprächsfetzen schlugen an sein Ohr, jemand lachte. Für eine Sekunde haftete sein Blick an dem Gesicht einer Frau, ihr offener, bemalter Mund sah schwarzgerändert aus. Die Autos fuhren jetzt an, ihre Motoren summten auf. Eine Straßenbahn schrammte vorbei. Und wieder Menschen, Menschen, ein Strom fluten­der Gesichter, Sprechen und hundertfache Schritte. Redluff fuhr unwillkürlich mit der Hand an seinen Kragen. An seinem Hals merkte er, daß seine Finger kalt und schweißig waren. Wovor hab' ich denn eigentlich Angst, verdammte Einbildung, wer soll mich denn schon erkennen in dieser Menge, sagte er sich. Aber er spürte nur zu genau, daß er in ihr nicht eintauchen konnte, daß er wie ein Kork auf dem Wasser tanzte, abgestoßen und weitergetrieben. Ihn fror plötzlich. Nichts wie verdammte Einbildung, sagte er sich wieder. Vor drei Monaten war das ja noch anders, da stand sein Name fett auf rotem Papier auf jeder Anschlagsäule zu lesen, Jens Redluff; nur gut, daß das Photo so schlecht war. Der Name stand damals fett in den Schlagzeilen der Blätter, wurde dann klein und kleiner, auch das Fragezeichen dahinter, rutschte in die letzten Spalten und verschwand bald ganz.

Redluff war j etzt in eine Seitenstraße abgebogen, der Menschenstrom wurde dünner, noch ein paar Abbiegungen, und die Rinnsale lösten sich auf, zerfielen in einzelne Gestalten, einzelne Schritte. Hier war es dunkler. Er konnte den Kragen öffnen und die Krawatte nachlassen. Der Wind brachte einen brackigen Lufthauch vom Hafen her. Ihn fröstelte.

Ein breites Lichtband fiel quer vor ihm über die Straße, j emand kam aus dem kleinen Lokal, mit ihm ein Dunst nach Bier, Qualm und Essen. Redluff ging hinein. Die kleine, als Cafe aufgetakelte Kneipe war fast leer, ein paar Soldaten saßen herum, grelle Damen in ihrer Gesellschaft. Auf den kleinen Tischen standen Lämpchen mit pathetisch roten Schirmen. Ein Musikautomat begann aus der Ecke zu hämmern. Hinter der Theke lehnte ein dicker Bursche mit bloßen Armen. Er schaute nur flüchtig auf.

„Konjak, doppelt", sagte Redluff zu dem Kellner. Er merkte, daß er seinen Hut noch in der Hand hielt und legte ihn auf den leeren Stuhl neben sich. Er steckte sich eine Zigarette an, die ersten tiefen Züge machten ihn leicht benommen. Schön warm war es hier, er streckte seine Füße lang aus. Die Musik hatte gewechselt. Über gezogen jau­lenden Gitarrentönen hörte er halblautes Sprechen, ein spitzes Lachen vom Nachbartisch. Gut saß es sich hier.

Der Dicke hinter der Theke drehte jetzt seinen Kopf nach der Tür. Draußen fiel eine Wagentür schlagend zu. Gleich daraufkamen zwei Männer herein, klein und stockig der eine davon. Er blieb in der Mitte stehen, der andere, im langen Ledermantel, steuerte auf den Nachbartisch zu. Keiner von beiden nahm seinen Hut ab. Redluff versuchte hinüberzuschielen, es durchfuhr ihn. Er sah, wie der Große sich über den Tisch beugte, kurz etwas Blinkendes in der Hand hielt. Die Musik hatte ausgesetzt. „What's he want?" hörte er den Neger vom Nebentisch sagen. „What's he want?" Er sah seine wulstigen Lippen sich bewegen. Das Mädchen kramte eine bunte Karte aus ihrer Handtasche. „What's he want?" sagte der Neger eigensinnig. Der Mann war schon zum nächsten Tisch gegangen. Redluff klammerte sich mit der einen Hand an die Tischkante. Er sah, wie die Fingernägel sich entfärbten. Der rauchige Raum schien ganz leicht zu schwanken, ganz leicht. Ihm war, als müßte er auf dem sich neigenden Boden jetzt langsam samt Tisch und Stuhl auf die andere Seite rutschen. Der Große hatte seine Runde be­endet und ging auf den anderen zu, der immer noch mitten im Raum stand, die Hände in den Manteltaschen. Redluff sah, wie er zu dem Großen etwas sagte. Er konnte es nicht verstehen. Dann kam er geradewegs auf ihn zu.

„Sie entschuldigen", sagte er, „Ihren Ausweis bitte!" Redluff schaute erst gar nicht auf das runde Metall in seiner Hand. Er drückte seine Zigarette aus und war plötzlich völlig ruhig. Er wußte es selbst nicht, was ihn mit einmal so ruhig machte, aber seine Hand, die in die Innentasche seines Jacketts fuhr, fühlte den Stoff nicht, den sie berührte, sie war wie von Holz. Der Mann blätterte langsam in dem Paß, hob ihn besser in das Licht. Redluff sah die Falten auf der gerunzelten Stirn, eins, zwei, drei. Der Mann gab ihm den Paß zurück. „Danke, Herr Wolters", sagte er. Aus seiner unnatürlichen Ruhe heraus hörte Redluff sich selber sprechen. „Das hat man gern, so kontrolliert zu werden wie" - er zögerte etwas, „ein Verbrecher!" Seine Stimme stand spröde im Raum. Er hatte doch gar nicht so laut gesprochen. „Man sieht manchmal jemand ähnlich", sagte der Mann, grinste, als hätte er einen feinen Witz gemacht. „Feuer?" Er fingerte eine halbe Zigarre aus der Manteltasche. Redluff schob seine Hand mit dem brennenden Streichholz längs der Tischkante ihm entgegen. Die beiden gingen.

Redluff lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Die Spannung in ihm zerbröckelte, die eisige Ruhe schmolz. Er hätte jubeln können. Das war es, das war die Probe, und er hatte sie bestanden. Triumphierend setzte der Musikautomat wieder ein. „He, Sie vergessen Ihren Hut", sagte der Dicke hinter der Theke. Draußen atmete er tief, seine Schritte schwangen weit aus, am liebsten hätte er gesungen. Langsam kam er wieder in belebtere Straßen, die Lichter nahmen zu, die Läden, die Leuchtzeichen an den Wänden. Aus einem Kino kam ein Knäuel Menschen, sie lachten und schwatzten, er mitten unter ihnen. Es tat ihm wohl, wenn sie ihn streiften. „Hans", hörte er eine Frauenstimme hin­ter sich, jemand faßte seinen Arm. „Tut mir leid", sagte er und lächelte in das ent­täuschte Gesicht. Verdammt hübsch, sagte er zu sich. Im Weitergehen nestelte er an seiner Krawatte. Dunkelglänzende Wagen sangen über den blanken Asphalt, Kaskaden wechselnden Lichts ergossen sich von den Fassaden, Zeitungsverkäufer riefen die Abendausgaben aus. Hinter einer großen, leicht beschlagenen Spiegelglasscheibe sah er undeutlich tanzende Paare; pulsierend drang die Musik abgedämpft bis auf die Straße. Ihm war wie nach Sekt. Ewig hätte er so gehen können, so wie jetzt. Er gehörte wieder dazu, er hatte den Schritt der vielen, es machte ihm keine Mühe mehr. Im Sog der Menge ging er über den großen Platz auf die große Halle zu mit ihren Ketten von Glühlampen und riesigen Transparenten. Um die Kassen vor dem Einlaß drängten sich Menschen. Von irgendwoher flutete Lautsprechermusik. Stand dort nicht das Mädchen von vorhin? Redluff stellte sich hinter sie in die Reihe. Sie wandte den Kopf, er spürte einen Hauch von Parfüm. Dicht hinter ihr zwängte er sich durch den Einlaß. Immer noch flutete die Musik, er hörte ein Gewirr von Hunderten von Stim­men. Ein paar Polizisten suchten etwas Ordnung in das Gedränge zu bringen. Ein Mann in einer Art von Portiersuniform nahm ihm seine Einlaßkarte ab. „Der, der!" rief er auf einmal und deutete aufgeregt hinter ihm her. Gesichter wandten sich, jemand im schwarzen Anzug kam auf ihn zu, ein blitzendes Ding in der Hand. Gleißendes Scheinwerferlicht übergoß ihn. Jemand drückte ihm einen Riesenblumen­strauß in die Hände. Zwei strahlende, lächelnde Mädchen hakten ihn rechts und links unter, Fotoblitze zuckten. Und zu allem dröhnte eine geölte Stimme, die vor innerer Freudigkeit fast zu bersten schien: „Ich darf Ihnen im Namen der Direktion von ganzem Herzen gratulieren, Sie sind der hunderttausendste Besucher der Ausstellung!" Redluff stand wie betäubt. „Und jetzt sagen Sie uns Ihren werten Namen", schmalzte die Stimme unwiderstehlich weiter. „Redluff, Jens Redluff, sagte er, noch ehe er wußte, was er sagte, und schon hatten es die Lautsprecher dröhnend bis in den letzten Winkel der riesigen Halle getragen.

Der Kordon der Polizisten, der eben noch die applaudierende Menge zurückgehalten hatte, löste sich langsam auf.

Sie kamen auf ihn zu.

Textuntersuchung

1. In welchen Situationen befindet sich die Hauptperson?

2. Mit welchen Mitteln wird Spannung erzeugt?

3. Aus welchem Grunde heißt die Geschichte: „Die Probe"?

4. Weshalb nennt er am Schluß den richtigen Namen?

5. Beschreiben Sie die Gefühle der Hauptperson!

6. Aus welchem Grunde bleibt der Schluß offen?

Die anderen Kinder

URSULA WÖLFEL

Die Kinder aus der Teichstraße sagten: „Die anderen Kinder", und damit meinten sie die aus dem Bahnweg. Die Kinder aus dem Bahnweg sagten auch: „Die anderen Kin­der", und damit meinten sie die aus der Teichstraße.

Den Bahnweg gab es schon lange. Es war ein lehmiger Fahrweg, der führte durch verwildertes Wiesenland am Bahndamm entlang zur alten Kiesgrube. Sie war halb zu­geschüttet mit Gerumpel und Schutt.

Es gab am Bahnweg nur drei Häuser, das waren Notunterkünfte, graue Steinbarak­ken mit flachen Wellblechdächern.

Die Teichstraße war eine neue Straße. Hohe weiße Wohnblocks standen dort, schöne Häuser mit großen Fenstern und sonnigen Baikonen, und zwischen den Blocks gab es Grünanlagen und einen Spielplatz.

Als die Leute dort einzogen, sagten die Eltern zu ihren Kindern:

„Am Bahnweg wohnt nur schlechtes Pack. Das sind Leute, die keine Miete bezahlen, die nicht arbeiten. Mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Spielt nicht mit den Kin­dern aus dem Bahnweg."

Und die Eltern im Bahnweg sagten zu ihren Kindern: „Kümmert euch nicht um das hochmütige Volk aus den neuen Häusern. Die denken, sie wären etwas Besseres als wir."

Das machte die Kinder nur neugierig.

Die aus der Teichstraße fuhren mit ihren Fahrrädern durch den Bahnweg. Sie benei­deten die Kinder dort, weil sie aus dem Gerumpel in der Kiesgrube Buden bauen konn­ten. Und nach jedem Regen stand Wasser in der Grube, dann paddelten die Bahnweg­kinder dort auf Bretterflößen. Aber wenn sie die Teichstraßenkinder sahen, schrien sie:

„Was wollt ihr hier? Teichstraßenaffen, Hosenscheißer! Paßt auf, da liegt ein Stroh­halm, gleich fliegt ihr auf den Arsch! Haut ab!"

Manchmal kamen auch die Kinder aus dem Bahnweg zum Spielplatz an der Teich­straße. Sie taten so, als fänden sie hier alles komisch. Sie flüsterten miteinander und lachten übertrieben laut und zeigten mit dem Finger auf die Teichstraßenkinder. Die schrien dann:

„Ihr habt hier nichts zu suchen! Bahnwegpack, Drecksäue! Ihr wollt nur unsere Sachen klauen! Macht, daß ihr wegkommt!"

So war es zuerst, aber so blieb es nicht lange, und das kam durch Karsten aus der Teichstraße und durch Freddi, Tino und die Türken aus dem Bahnweg.

Karsten war fünf Jahre alt, und wenn er draußen spielte, sollten seine beiden großen Schwestern auf ihn achtgeben. Aber immer wieder lief er ihnen weg, und wenn sie ihn suchten, war er nirgendwo zu finden.

Am Abend saß er dann jedesmal wieder brav im Sandkasten und sagte: „Ich bin nur ein bißchen mit dem Roller herumgefahren."

Das glaubten die Mädchen ihm auch immer.

Aber einmal wurde es Abend, und Karsten war noch nicht wieder da. Die Mädchen und drei von den großen Jungen suchten ihn. Zuletzt liefen sie zum Bahnweg.

Unterwegs sagten sie: „Im Bahnweg wohnt doch ein Mann, der hat schon im Gefäng­nis gesessen! Wenn der jetzt dem Karsten etwas getan hat?"

„Und Zigeuner wohnen im Bahnweg!" sagten'sie. „Manche Leute sagen, daß Zigeuner kleine Kinder stehlen!"

Sie sagten: „Ausländer gibt es auch dort, Türken. Man weiß nicht, was für Leute das sind. Die reden ja nicht richtig deutsch!"

Im Bahnweg saß der Zigeunermann auf der Bank vor seinem Haus und fütterte ein kleines Kind mit Brei. Die Teichstraßenkinder fragten ihn nach Karsten. Er sagte: „Der ist mit meinem Tino weggegangen. Karsten und mein Tino sind gute Freunde."

Beim nächsten Haus war ein Gemüsegarten. Ein junges Mädchen machte Unkraut aus, und ein alter Mann stand auf einer Leiter und flickte etwas am Dach.

Die Kinder blieben am Zaun stehen.

„Was wollt ihr denn hier?" fragte das junge Mädchen. „Gafft nicht so!"

Aber der alte Mann rief von oben: „Freddi ist mit Karsten und dem Zigeunertino bei den Türken. Alle Kinder sind eingeladen. Beeilt euch, sie feiern ein türkisches Fest!"

„Die sind doch aus der Teichstraße", sagte das junge Mädchen.

„Macht das einen Unterschied?" fragte der alte Mann.

Sie gingen weiter. Einer von den Jungen flüsterte: „Das war der Mann, der im Ge­fängnis gesessen hat!" - „Warum reden die Erwachsenen eigentlich immer so schlecht von den Bahnwegleuten?" fragte ein anderer.

Bei den Türken machte eine Frau die Tür weit auf und rief: „Herein, herein!"

„Viele Gäste, großes Fest!" rief ein Mann. Er zeigte auf eine lange Polsterbank mit bunten Decken und Kissen. Dort saßen schon sieben oder acht von den Bahnweg­kindern. Auch Karsten saß dort.

Die aus der Teichstraße blieben an der Tür stehen. „Komm sofort nach Hause!" rief eine von Karstens Schwestern.

Die Bahnwegkinder rückten zusammen und sahen die Teichstraßenkinder an und grinsten.

„Ihr habt Angst?" fragte der Mann. „Hier haben die Menschen Angst vor den Frem­den. Warum?"

Da kamen sie herein und setzten sich.

Die Frau brachte Gläser und Tassen mit süßem Tee, und die Teichstraßenkinder mußten türkisches Gebäck essen und türkischen Tee trinken, und die Bahnwegkinder sahen ihnen zu und grinsten immer noch.

Keiner sagte ein Wort.

„Stumme Kinder?" fragte der Mann.

Jetzt grinsten auch die aus der Teichstraße, aber sie wußten nicht, was sie sagen sollten. Sie waren verlegen, weil sie so unfreundlich von den Türken gesprochen hatten.

Endlich hatten sie ihren Tee ausgetrunken. Sie bedankten sich bei der Frau.

Der Mann brachte sie zur Tür und sagte: „Kommt wieder, wir freuen uns!"

Die Bahnwegkinder liefen ihnen nach.

„Kommt wieder, wir freuen uns auch!" riefen sie. „Dann schmeißen wir euch in die Kiesgrube, ihr armen Mamakinderchen! Ihr Schürzenbandlutscher!" Sie lachten.

„Ja, morgen!" schrien die aus der Teichstraße. „Dann verhauen wir euch, ihr grinsen­den Ohrwürmer!" Sie lachten auch.

„Ihr stinkenden Käsemaden!" schrien die aus dem Bahnweg.

„Ihr Kaninchenfurzfänger!" schrien die aus der Teichstraße.

Und so fing ihre Freundschaft an.

Textuntersuchung

1. Welches Problem wird im Text dargestellt?

2. Schildern Sie das Verhalten der Kinder und das der Eltern!

3. Begründen Sie die Verhaltensweisen!

4. Welche Rolle spielt der alte Mann?

5. Wie wird das Problem gelöst?

Textgestaltung

1. Fertigen Sie eine Inhaltsangabe der Erzählung an!

2. Beschreiben Sie, in welchen Formen und in welchen Bereichen menschliche Aggres­sionen sichtbar werden oder unsichtbar bleiben!

ДОДАТОК A

Схема аналізу художнього тексту

¨ Zu einer Textanalüse gehören: