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Diss_Brigitte_Merz Бхакти и Шакти (нем)

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in verschiedenen Körperteilen der Göttin Hàratã und der Tradition der ÷akti-pãñha herstellen kann. Der wichtigste ÷akti-pãñha Nepals, manche behaupten sogar der einzige “richtige” ÷akti-pãñha Nepals (vgl. Levy 1992: 231), befindet sich auf dem Gelände des größten hinduistischen Heiligtum Nepals Pa÷upatinàtha. Dort wurde der Tempel der Göttin Guhye÷varã auf dem Platz errichtet, auf den Satãs anus oder pudendum (Nepali 1965: 307; Slusser 1982: 327), vulva oder vagina (Michaels 1996: 317) gefallen sein soll. Die Göttin Guhye÷varã ist in Nepal allseits bekannt und wie erwähnt wurde, wird sie von den Dyaþmà als eine der ‘Schwestern’ Hàratãs bezeichnet. Zumindest den Dyaþmà aus dem Kathmandutal ist auch bekannt, dass sich dort ein ‘Kraftplatz’ befindet, der mit einem Körperteil Devãs in Verbindung gebracht wird, wobei die meisten der Auffassung sind, dass sich dort die yoni der Göttin, d.h. ihre vulva, befindet. Wenn Devãs anus oder vulva ÷akti innehat, warum sollten nicht auch Finger, Nerven und Venen der Göttin Hàratã, die so offensichtlich mit øakti oder Devã (oder auch mit Pàrvatã und Dårga) in Verbindung gebracht wird,

÷akti innehaben? Man könnte sogar darüber spekulieren, ob dann nicht auch die Körper der Medien als ‘Kraftplätze’ angesehen werden könnten, sobald sich im Zustand der Übermächtigung durch die Göttin Hàratã die ÷akti der Göttin im Körper der Medien befindet? Eine weitere Ähnlichkeit ist darin zu finden, dass in der Nähe von ÷akti-pãñhas immer auch Bhairava zu finden ist (Slusser 1982: 327; Toffin 1984: 441) und, wie bereits mehrmals erwähnt wurde, Unmatta Bhairava als ‘Ehemann’ Hàratãs gesehen wird. Auch wenn der Bezug auf die ‘Kraftplätze’ etwas gewagt erscheint, sollte nicht vergessen werden, dass im Kult der Medien viele unterschiedliche Traditionen und religiöse Strömungen zusammen kommen, so wie sich auch generell die Religionen Nepals aus hinduistischen (÷ivaitischen und viùõuitischen), buddhistischen, tantrischen und ÷àktischen Elementen zuammensetzen (vgl. Lienhard 1978) und sich insbesondere in den religiösen Traditionen der Newar auf faszinierende Weise offenbaren. So wie in der Newar-Kultur im Ganzen, integrieren auch die Medien die verschiedenen Elemente in ihren Praktiken und Vorstellungen und zeigen meiner Meinung nach damit auch, dass sie integraler

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Bestandteil der religiösen Kultur Nepals sind. Die Medien weisen zwar nicht explizit auf einen Zusammenhang zwischen Hàratã und Dårga oder Pàrvatã, øakti oder Devã hin, aber wie viele andere Menschen in Südasien vertreten auch sie die Auffassung, dass alle Göttinnen letztendlich ‘eins’ sind (vgl. Sax 2002a: 135) und dass das Ziel des Lebens darin besteht, “Gott zu erreichen” (skt. ãsvara pràpti).

Im nächsten Abschnitt soll der letzte Satz aus Raj Kumaris Erzählung weiter oben aufgegriffen werden, wonach der àsan desjenigen Mediums am stärksten ist, bei dem die Regeln (niyam) am besten eingehalten werden. Im folgenden soll daher genauer betrachtet werden, was diese Regeln der Medien beinhalten. Dabei soll untersucht werden, inwieweit diese Regeln das Handlungspotential der Frauen beinflussen und was die Regeln über die agency der Gottheiten aussagen.

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3.4. Die Regeln (niyam) oder Gesetze der Medien

Einer Volksethymologie zufolge soll das Wort ‘Nepal’ aus den Worten “niyam pàl, keeping the rules” (Gellner 1992: 189) entstanden sein und sich darauf beziehen, dass die Gottheiten einst deshalb selbst nach ‘Nepal’ (in diesem Zusammenhang wird darunter das Kathmandu-Tal verstanden) gekommen seien, weil die Menschen so gläubig waren und die religiösen Regeln (niyam) eingehalten hätten. Aber nachdem die Menschen diese Regeln vernachlässigt hätten, hätten die Gottheiten Nepal wieder verlassen. Die Auffassung, dass die Menschen die alten Regeln nicht mehr einhalten würden, ist nicht nur Inhalt überlieferter Erzählungen, sondern spiegelt auch die Meinung vieler Menschen des subindischen Kontinents wider, wonach im Kaliyuga, dem derzeitigen Zeitalter, nicht mehr auf den Rat der Älteren gehört, nicht mehr an die Götter geglaubt würde, die Gottheiten auch nicht mehr regelmäßig verehrt werden würden und sie sich deshalb von der Erde zurückgezogen hätten (vgl. Gold 1988: 41). Wie bereits erwähnt, sind in Nepal tatsächlich immer weniger Menschen bereit, religiöse Ämter, wie etwa das eines Priesters, auszuüben, da sich damit kaum Geld verdienen lässt und die täglich durchzuführenden rituellen Verpflichtungen den jüngeren Leuten zu aufwendig sind oder ihnen wegen ihrer Berufstätigkeit schlicht die Zeit dazu fehlt. Dennoch gibt es noch immer zahlreiche Menschen, deren Leben aufgrund ihres Stands oder ihrer gewählten Lebensführung die Einhaltung strikter Regeln erforderlich macht. Dazu gehören Angehörige hoher Kasten, Asketen, Mönche, Nonnen und religiöse Spezialisten, wozu ich auch Medien der Göttin Hàratã zähle. Die von den Medien eingehaltenen Regeln gleichen ‘Gesetzen’, die nicht überschritten werden dürfen. Wenn dies doch geschieht, könnte dies eine Erkrankung des Mediums auslösen oder im schlimmsten Fall sogar dazu führen, dass sich die Gottheiten von ihr abkehren. Dass niyams Gesetzen ähnlich sind, kommt auch in der Übersetzung aus dem Sanskrit von Monier-Williams zum Ausdruck, wonach “niyama” u.a. mit “any fixed rule or law, necessity, obligation” (1986: 552) angegeben wird.

Die Regeln oder Gesetze der Medien beinhalten bestimmte Essensbeschränkungen sowie bestimmte Verhaltensregeln, die in Zusammenhang mit Raj Kumaris Werdegang als Medium im zweiten Kapitel teilweise schon zur Sprache kamen. Einige Besonderheiten wurden dort jedoch noch nicht genannt. Wie man

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feststellen kann, wenn man im Haus einer Newar-Familie am Essen teilnimmt, wird zu Beginn von jedem Essensteilnehmer ein kleiner Teil des Essens für die Ahnen auf die Seite gelegt.164 Von den Dyaþmà wird zudem verlangt, dass sie auch einen kleinen Teil des Essens für ‘ihre’ Gottheiten beiseite legen: an erster Stelle für die Göttin Hàratã, danach für ihre Kinder, dann für die Schwestern Hàratãs und schließlich für den Ehemann der Göttin. Erst nachdem dies getan wurde, kann eine Dyaþmà selbst mit dem Essen beginnen. Diese Verpflichtung besteht selbst dann, wenn sie nur einen Tee zu sich nimmt. Im Fall des Tees stipsen die Medien mit den Fingern etwas von der Flüssigkeit aus der Tasse, bevor sie zum Trinken ansetzen. Diese strengen Vorschriften werden jedoch nicht von allen Medien, die ich kennenlernte, eingehalten. Es gibt sowohl regionale als auch persönliche Unterschiede und oft hängt es davon ab, wie die Regeln von der ‘Lehrerin’ (guru) vermittelt wurden. Raj Kumari, die keine Lehrerin hatte, wurden ihrer Aussage nach die Regeln von der Göttin selbst übermittelt, indem sich die Göttin während der Besessenheit an Raj Kumaris pàju wandte, der die Informationen später an sie weitergab. Was das Essen angeht, gibt es noch weitere Besonderheiten. So werden bei einer påjà, die zuhause oder in einem Tempel stattfinden kann, bei der gemeinsamen Mahlzeit im Anschluß an das Verehrungsritual einer Dyaþmà immer als Erste das Essen serviert. Einem Medium aus Patan wird selbst bei dem jährlichen Todesritual (÷ràddha), bei dem der Verstorbenen gedacht wird und bei dem normalerweise dem Ältesten der Familie zuerst serviert wird, zuerst das Essen gereicht. Anderen Medien wird auch innerhalb der eigenen Familie noch vor den männlichen Familienmitgliedern serviert, wie ich bei einem Medium in West-Nepal selbst beobachten konnte. Öfter wird auch die erste Portion Reis und Linsen für ein Medium beiseite gestellt und von ihr später gemeinsam mit den anderen Frauen des Haushalts gegessen, nachdem die männlichen Familienmitglieder ihre Mahlzeit beendet haben. Prinzipiell sollten die Medien auch nicht außerhalb des eigenen Hauses essen und trinken, es sei denn, das Essen wurde von einer langjährigen bhakta der Göttin zubereitet. Es gibt jedoch Ausnahmeregelungen. So können Dyaþmà zum Beispiel als Gast an einer Hochzeit

164 Ich beziehe mich hier ausdrücklich auf Familien, in denen es eher traditionell zugeht oder die von einer starken Religiösität geprägt sind. In vielen Familien wird den Ahnen nur noch an speziellen Tagen gedacht oder Essen für sie nur noch bei Festessen zur Seite gelegt.

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teilnehmen, wenn die Göttin ihnen zuvor die Erlaubnis erteilt hat. Sie müssen jedoch getrennt von den anderen Gästen sitzen, ihnen muß zuerst serviert werden und sie dürfen nur bestimmte Speisen zu sich nehmen. Weitere Einschränkungen gibt es im Zusammenleben mit dem Ehemann. Nach meinen Informationen scheinen viele Frauen, nachdem sie sich als Dyaþmà etabliert haben, nicht mehr das Bett mit ihren Ehemännern zu teilen. Als Grund wurde angegeben, dass die Gottheit immer zumindest zu einem kleinen Teil im Körper der Frauen gegenwärtig sei und es daher nicht mehr möglich sei, mit dem Ehemann zu schlafen. Ein Medium aus Kathmandu erzählte mir jedoch, dass sie mit dieser Regel nicht einverstanden gewesen sei, u.a. da sie befürchtete, ihren Mann an eine Zweitfrau zu verlieren. Sie suchte daher gemeinsam mit ihrem Ehemann die Göttin auf, die sich in einem Medium verkörpert hatte, und bat um die Erlaubnis, weiterhin das Bett mit ihrem Ehemann teilen zu dürfen, worauf es ihr die Göttin gestattete. Im Fall eines Medium in Butwal, im Süden Nepals, gab die Göttin jedoch keine Erlaubnis. Das Medium beteiligte sich daraufhin aktiv an der Suche nach einer Zweitfrau für ihren Ehemann und lebt bis heute von ihm getrennt. Das Medium hatte damit - wie sie sagte - für die Göttin ihren “Körper geopfert”.165

Es könnten hier noch wesentlich mehr Beispiele aufgezählt werden, aber um zu vermeiden, dass das Thema zuviel Platz einnimmt, soll nur noch auf die Regeln, die für Medien untereinander gelten, eingegangen werden. Auch hier gibt es wieder regionale Abweichungen oder Varianten, die mit der jeweiligen ‘Schulung’ zu tun haben. Die folgende niyam zum Beispiel, in denen es um die hierachische Einordnung der Dyaþmà untereinander geht, erfuhr ich von mehreren Medien aus West-Nepal, die sich auf eine gemeinsame ‘Lehrerin’ berufen. Die Regel lautet, dass das ‘ältere’ Medium, d.h. die Frau mit den längsten Erfahrungen als Dyaþmà , immer Vorrang vor anderen, ‘jüngeren’ Dyaþmà hat. In der Praxis bedeutet dies: Besucht ein Medium, welches bereits seit zehn Jahren einen àsan besitzt, ein Medium, das erst seit vier Jahren praktiziert, muß das ‘jüngere’ Medium von ihrem àsan herunter steigen, damit die ‘Ältere’, bzw. die Frau mit der längeren Erfahrung als Medium, darauf Platz nehmen kann. Diese Regel führt dazu, dass ein Medium so gut wie nie ein anderes

165 “thwa mha chhay dhuna(“[Ich] habe meinen Körper geopfert”)

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Medium besucht, während sich diese auf dem àsan befindet, es sei denn, die Besucherin ist eine “Schülerin” des Mediums. Da diese immer ‘jünger’ sind, bzw. noch nicht so lange Medium sind, wie ihre Lehrerin, gibt es in einem solchen Fall keine Hierachieprobleme.

Das Einhalten der Regeln ist aufwendig und es dauert eine Weile, bis ein ‘junges’ Medium diese verinnerlicht hat. Eine Dyaþmà , deren Initation in den Kult (d.h. die Übergabe einer kala÷a an sie) ich miterlebte und daher auch deren erste Zeit als Medium mitverfolgen konnte, mußte zu Beginn jeden Samstag zu ihrer ‘Lehrerin’, die immer wieder systematisch die Regeln für sie und auch die Mutter des Mediums wiederholte. Einem ‘jungen’ Medium gegenüber hat die Göttin mehr Nachsicht, als gegenüber einem älteren, erfahreneren Medium. Macht das ‘junge’ Medium einen Fehler, genügt es, sich bei der Göttin zu entschuldigen. Macht ein erfahreneres Medium einen Fehler, dann reicht eine Entschuldigung zwar oft auch aus, aber die Göttin weist sie dann eher zurecht oder schimpft regelrecht mit ihr.

Generell ist zu beobachten, dass die ‘älteren’ Medien die Regeln strikter beachten und dass Medien umso anerkannter sind, je strenger sie die Regeln einhalten. Es wird behauptet, dass Medien, die den Regeln wirklich folgen, besser heilen können, besser ‘sprechen’ können, d.h. bessere Ratschläge geben können und insgesamt ihre ‘Arbeit’ (jyày) besser machen. Der Grund dafür sei, dass die Gottheiten umso zufriedener mit den Medien seien, je besser diese die Regeln einhalten. Dann hätten die Medien mehr ÷akti und könnten besser heilen. Der Grad der Zufriedenheit der Gottheiten ist u.a. an der Menge und Form eines bestimmten Ruß (mvahanã) abzulesen. Dieser spezielle Ruß entsteht, wenn ein Docht in einer kleinen Tonschale über die eine weitere Tonschale gestülpt wurde, abgebrannt wird. Wird nach einer Heilsitzung noch eine påjà durchgeführt, wird dieser Docht angezündet und am Ende der påjà betrachtet, wieviel schwarzer Ruß (mvahanã) sich darin befindet.166 Befindet sich viel mvahanã in der Tonschale, bedeutet dies, dass die

166 Der Ruß, der auch als mvahanãsinaþ ‘schwarzes Farbpuder’ bezeichnet wird, spielt auch bei anderen Newar-Ritualen, wie z.B. bei der ersten Reisfütterung des Kleinkinds, eine Rolle. Am Ende von Ritualen wird er oft zusammen mit dem roten Farbpuder als tikà auf die Stirn der Ritualteilnehmer gedrückt.

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Gottheiten zufrieden oder gar glücklich (khu÷i jula) sind, während wenig mvahanã das Gegenteil beweist.

Die Regeln gelten aber nicht nur für die Medien, sondern teilweise auch für die Besucher. So dürfen diese beispielsweise keinen Reis, Hühnereier oder Hühnerfleisch gegessen haben, wenn sie ein Medium aufsuchen möchten, das eine Heilsitzung abhält. Haben sie das dennoch getan, kann sich das Medium entweder leicht unwohl fühlen, auf der Stelle krank werden oder im Lauf der Nacht erkranken, wie es schon im Zusammenhang mit Chandikas Lebensgeschichte erwähnt wurde. Für den Umgang der Besucher und Besucherinnen mit den Medien auf dem àsan gilt, dass sie sich prinzipiell wie gegenüber Gottheiten in einem Tempel zu verhalten haben, d.h. die Anrede und Rede sollte in der höchsten Höflichkeitsform erfolgen; Frauen müssen ihren Sàri von der rechten Schulter nehmen, wenn sie dem àsan gegenüber stehen, wie dies auch im Tempel erwartet wird; sie werden ermahnt, nicht vor dem Medium zu husten, um es nicht versehentlich durch Spucke zu verunreinigen, usw. Umgekehrt ist es aber sehr wohl möglich, dass eine Dyaþmà am Schluß einer langen påjà, Besuchern in den geöffneten Mund spuckt, um auf diese Weise die ÷aktã der Göttin weiterzugeben.167

Nicht nur die Medien selbst betonen, wie wichtig das Einhalten der Regeln ist, sondern auch andere religiöse Spezialisten, von denen einige mit Medien auf eine bestimmte Art zusammenarbeiten. Ein Newar-Priester (Vajràchàrya), der Klienten, denen er nicht helfen konnte, an ein Medium in der Nachbarschaft verweist, betonte, dass das Einhalten der Regeln elementar sei, damit die Dyaþmà anderen Menschen helfen könnten; denn würden sie die Regeln nicht einhalten, würden sie ihre speziellen Fähigkeiten (siddhi) verlieren.

Nach diesem Überblick über die Regeln der Medien und verschiedenen Ansichten darüber, soll als erstes der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich diese Regeln auf die agency der Frauen auswirkt. Zunächst erhält man den Eindruck, dass sie das Leben und vor allem das Sozialleben der Frauen stark einschränken. Es gibt Essensbeschränkungen und das Essen soll möglichst nur noch zuhause

167 In diesem Zusammenhang ist der Hinweis von Caroline Walker Bynum interessant, dass im Mittelalter “Holy people spat or blew into the mouths of others to effect cures or convey grace” (1989: 163).

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eingenommen werden. Um an Festen oder Ritualen teilnehmen zu können, muß zuerst die Göttin um Erlaubnis gebeten werden. Gestattet die Göttin die Teilnahme, können sich die Frauen nicht einfach in eine Reihe mit den Verwandten und Freunden setzen, sondern müssen separat sitzen. Sie sollen sich auch nicht mehr vor älteren oder höherrangigen Menschen verbeugen, was letztendlich auch dazu führen kann, dass die Medien an bestimmten rituellen Ereignissen einfach nicht mehr teilnehmen. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung Raj Kumaris, ihren guru, von dem sie tantrisch initiert worden war, nicht mehr aufzusuchen, weil sie sich vor ihm verbeugen und an einem rituellen Essen teilnehmen müßte. Gravierend können auch die Einschränkungen sein, die das Zusammenleben eines Mediums mit ihrem Ehemann angeht. Die Göttin hat für die Medien an erster Stelle zu stehen und muß für jede anstehende Entscheidung zuerst um Erlaubnis gefragt werden. Auch wenn es so aussieht, als würde dadurch die Dominanz des Ehemanns durch die Dominanz der Göttin ersetzt werden, trifft das nur zum Teil zu, denn oft muß zudem auch noch der Mann um Erlaubnis gefragt werden. Die Medien sind also nicht nur der Göttin gegenüber Rechenschaft schuldig, sondern auch, bzw. immer noch dem Ehemann. Insgesamt gesehen scheinen die Regeln also das Handlungspotential der Frauen eher einzuengen. Für manche der Regeln trifft dies sicher auch zu, aber bei einigen davon kann man sich auch fragen, ob sie nicht doch auch zur Erweiterung der agency der Frauen beitragen. Als Beispiel soll die Regel genommen werden, dass ein Medium ihr Bett nicht mehr mit dem Ehemann teilen sollte. Ein Medium muß daher versuchen, von ihrem Mann getrennt zu schlafen. Wie in obigem Beispiel kann eine Frau mit dieser Regel aber nicht einverstanden sein. Sie wird sich daher bemühen, von der Göttin die Erlaubnis zu bekommen, sich nicht an diese Regel halten zu müssen. Andererseits könnte eine Frau aber bereits jahrelang unter einer unbefriedigenden sexuellen Beziehung gelitten haben und kommt daher der Forderung der Göttin gerne nach. Protestiert ihr Mann dagegen, kann sie darauf hinweisen, dass die Göttin dies von ihr einfordert. Ihr Mann könnte nun theoretisch darauf bestehen, dass sie weiterhin zusammen schlafen, aber er riskierte dadurch, dass seine Frau erkrankt, weil diese sich über eine Anordnung der Göttin hinwegsetzt. In einem solchen Fall könnte man die Regel der Göttin als etwas sehen, das die agency der Frau erweitern kann, indem sie ihr die Möglichkeit gibt, sich ihrem Mann zu verweigern. So sieht auch Mary E. Hancock im Fall eines Mediums bei Smàrta Brahmanen-Frauen in Madras,

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die sich ihrem Mann sexuell verweigerte, die Beziehung zur Göttin als ein Mittel der Frau, diese Verweigerung plausibel zu machen. Darüber hinaus kann der Wunsch der Frau, sexuell enthaltsam zu leben, aber auch als eine Form von Askese gesehen werden, die es ihr ermöglicht, mehr spirituelle Energie (tapas) zu erzeugen (Hancock 1995a: 84). Dies ist eine interessante und wichtige Überlegung, die am Ende des vierten Kapitels noch einmal aufgegriffen wird. Ein weiteres Beispiel für die Möglichkeit durch die Regeln der Göttin das Handlungspotential der Medien zu erweitern, wurde bereits in einer der Erzählungen Raj Kumaris angedeutet. Angenommen in einer der Heilsitzungen verlangt die Göttin, dass das Medium an einem bestimmten Tag einen bestimmten Tempel aufsuchen soll, dann ist es dem Ehemann zwar möglich, seiner Frau diesen ‘Ausflug’ zu untersagen, aber auch hier muß er riskieren, dass seine Frau erkrankt, weil sie einen Befehl der Göttin nicht ausführt. Nach meinen Erfahrungen ist es wahrscheinlicher, dass der Ehemann einen solchen ‘Ausflug’ deshalb nicht verbietet. Auch hier könnte man also argumentieren, dass die Regel, sich den Befehlen der Göttin nicht zu widersetzen, zu einer Erweiterung der agency der Frauen beitragen kann. Ein letztes Beispiel zeigt jedoch, dass es oft auch schwierig ist zu erkennen, ob eine Regel das Handlungspotential erweitert oder ob es nicht doch um etwas anderes geht. So geben etwa die Regeln vor, dass bei Festen oder Ritualen außer Haus, zu deren Besuch die Göttin ihre Erlaubnis gegeben hat, ein Medium ein bestimmtes Essen serviert werden muß, d.h. ohne Hühnerfleisch, Auberginen, kleinen Zwiebeln, usw. und dass es ihr als Erste serviert werden muß (vgl. Coon 1989: 3). Laden etwa Anhänger (bhaktas) der Medien eine

Dyaþmà zu einer Hochzeit ein, werden diese Regeln genaustens eingehalten. Dem Medium wird ein separater Platz zugewiesen und ihr wird das Essen als Erste serviert. In einer Gesellschaft, in der Frauen normalerweise als Letzte in der Familie eine Mahlzeit einnehmen (vgl. Parish 1994: 71), kann man die Umkehrung dieser Praxis als außergewöhnliches bezeichnen. Verständlicher wäre dies allerdings, wenn eine Frau zu diesem Zeitpunkt von einer Gottheit besessen wäre. Dies ist aber nicht der Fall. Im Fall einer solchen Einladung, kommt ein Medium als ‘gewöhnliche’ Frau und nicht als Göttin. Kann man in solch einem Fall überhaupt von einem erweiterten Handlungspotential der Medien sprechen? Wenn man z.B. die dem Begriff ‘agency’ zugrundeliegende Definition von Ahearn nimmt, “Agency refers to the socioculturally mediated capacity to act” (2001: 112), dann muß man obige Frage verneinen. Indem

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dem Medium das Essen als Erste serviert wird, hat sie nicht mehr agency. Man könnte höchstens sagen, dass ihr ein Privileg eingeräumt wird oder dass ihr mehr Respekt und Anerkennung als anderen Frauen entgegen gebracht wird. Aber sie hat dadurch in diesem Moment nicht zwangsläufig mehr agency. Aber dennoch könnte sich die Tatsache, dass das Medium in solchen Situationen ungewöhnlich respektvoll behandelt wird, eventuell in anderen Bereichen ihres Lebens auf ihre agency auswirken, was durch weitere Forschungen noch eingehender untersucht werden müßte.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es schwierig einzuordnen ist, wann ein Medium durch die von der Göttin auferlegten Regeln eine erweiterte oder eher eine eingeschränkte agency hat. Es kommt immer auf die jeweilige Perspektive an. Aus der Perspektive einer Frau, die ihren Mann liebt und weiterhin das Bett mit ihm teilen möchte, ist das Verbot, nach der Etablierung als Medium mit ihm zu schlafen, eine Einengung ihres Handlungspotentials, während es aus der Perspektive einer Frau, die ihren Mann nicht oder nicht mehr liebt, eher eine Möglichkeit der legimtimen Verweigerung und damit eine Erweiterung ihres Handlungspotentials darstellt. Während der Übermächtigung durch die Gottheiten haben die Frauen aber eindeutig mehr agency als im Alltag. In solchen Momenten handelt es sich jedoch nicht um ihre eigene, sondern die der Gottheiten. Und nur so ist es möglich, dass sie - wie im Beispiel des Mediums, welche die ÷akti der Göttin weitergibt, indem sie den Besuchern und Besucherinnen in den Mund spuckt - die sozialen Normen auf eine unerhörte Art und Weise verletzen, ohne dass dies Konsequenzen hat. Die Strenge, mit der vor allem ältere Medien die Regeln der Göttin einhalten und die verschiedenen Formen der Unterwerfung unter die Göttin, stärkt vor allem die agency der Gottheiten.

Das Einhalten der Regeln ist eng mit der Hingabe (bhakti) an die Göttin verbunden. Im folgenden soll daher ausführlicher darauf eingegangen werden, was allgemein darunter verstanden wird und wie die Medien damit umgehen.

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