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Kehlmann_Daniel_-_Die_Vermessung_der_Welt

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09.05.2015
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nen Bett am Rand eines Krankenhausschlafsaals mit vergitterten Fenstern. Dies sei keiner der schlimmen Orte, sagte eine ältliche Schwester, hierher würden nur Adelige verlegt oder Leute, für die sich jemand verwendet habe, er solle froh sein.

Gegen Abend tauchte von neuem der höfliche Geheimpolizist auf. Alles sei geregelt, Eugen werde das Land verlassen. Man rege eine Reise nach Übersee an.

Er wisse nicht recht, sagte Eugen, das sei schon sehr weit.

Eigentlich sei das kein Vorschlag, antwortete der Geheimpolizist, die Idee stehe nicht zur Diskussion, und wüßte Eugen, welchem Schicksal er entgehe, er würde weinen vor Glück.

Am Abend kam sein Vater. Er setzte sich auf den Bettrand und fragte, wie er das seiner Mutter habe antun können.

Er habe das alles nicht vorgehabt, sagte Eugen weinend, er habe von nichts gewußt, er wolle nicht weg.

Geschehen sei geschehen, sagte sein Vater, klopfte ihm geistesabwesend auf die Schulter und schob etwas Geld unter sein Kopfkissen. Der Baron habe alles geregelt, er sei ein feiner Mann, wenn auch etwas verrückt.

Eugen fragte, wovon er leben solle.

Sein Vater zuckte die Schultern. Ob er schon einmal über die Berechnung von Feldern nachgedacht habe?

Feldern, wieso?

Kugelfunktionen, sagte sein Vater nachdenklich, so müsse es zu machen sein. Er fuhr zusammen und sah Eugen an, als erwache er aus einem Traum. Wie auch immer, er werde es schon schaffen! Dann zog er Eugen

so fest an sich, daß seine Schulter gegen dessen Kiefer prallte; für ein paar Sekunden war Eugen betäubt vor Schmerz. Als er wieder klar denken konnte, war sein Vater gegangen. Erst jetzt begriff er, daß er ihn nie mehr sehen würde.

Drei Tage später erreichte er den Hafen. Beim Warten auf die Fähre nach England kam er mit drei Handelsreisenden ins Gespräch, gutmütigen Leuten, nicht sehr intelligent, die für neugegründete Bankhäuser arbeiteten und ihn zu einem Kartenspiel aufforderten. Er gewann. Zunächst wenig, dann immer mehr, schließlich so viel, daß sie ihn für einen Betrüger hielten und er schnell gehen mußte. Dabei hatte er nichts anderes getan, als sich die Karten nach Giordano Brunos Methode zu merken, die sein Vater ihm vor Jahren beigebracht hatte: Man mußte jede Karte im Kopf in eine Menschenoder Tierfigur verwandeln, je alberner desto besser, so daß sie sich zu einer Geschichte zusammenfügten. Wenn man es geübt hatte, konnte man ein Spiel mit zweiunddreißig Blatt im Gedächtnis behalten. Damals war ihm das nie gelungen, und sein Vater hatte schimpfend aufgegeben. Jetzt aber ging es ohne Schwierigkeiten.

In einer anderen Gastwirtschaft trank er zuviel. Die Luft um ihn schien zu flimmern, und er spürte sanfte Müdigkeit in allen Gliedern. Der Wunsch nach Schlaf war so stark, daß er fast die schöne junge Frau übersehen hätte, die plötzlich neben ihm saß. So jung, das erkannte er dann aus der Nähe, war sie zwar gar nicht, und auch nicht ganz so hübsch, doch als er log und sagte, er habe kein Geld, fragte sie ihn beleidigt, ob er sie für so eine halte, und schon um ihr zu zeigen, daß er es nicht

tat, nahm er sie auf sein Herbergszimmer mit. Auf dem Weg dorthin dachte er darüber nach, ob es sich gehörte, ihr zu sagen, daß sie seine erste Frau war und er kaum wußte, was er zu tun hatte. Doch dann war es sehr einfach, und als er im Halbdunkel ihre Hände auf seinen Wangen spürte, war er so glücklich und müde, daß er fast eingeschlafen wäre, hätte sie es nicht verstanden, ihn wachzuhalten, und es war gar nicht mehr wichtig, wie jung sie war oder wie sie aussah, und als ihm am nächsten Morgen klar wurde, daß sie seinen ganzen Gewinn mitgenommen hatte, brachte er es nicht fertig, sich zu ärgern. Wie leicht alles wurde, wenn man aufbrach.

Dann war er nach England gekommen: fremde Menschen, eine Sprache aus seltsam klingenden Lauten, fremde Ortsschilder und merkwürdiges Essen. Angeblich lebten Millionen in London, aber er konnte es sich nicht vorstellen; eine Million Menschen, das ergab keinen Sinn. In seinem Gasthof erreichte ihn ein Brief Humboldts, der ihm empfahl, eines der neuartigen Dampfschiffe zu nehmen. Er schloß Ratschläge über den Umgang mit wilden Menschen an: Man müsse freundlich und interessiert wirken und dürfe weder seine Überlegenheit leugnen, noch es unterlassen, Belehrungen zu äußern, das Wohlgefallen an der Unwissenheit anderer sei eine Form der Herablassung. Eugen mußte lachen. Als ob er sich unter Wilden ansiedeln würde! Von seinem Vater kein Wort. Nachts konnte er vor Heimweh und Einsamkeit nicht schlafen. Er nahm das erste Dampfschiff, auf dem eine Passage frei war.

Es gab nur wenige Reisende an Bord, Dampfer fuhren erst seit kutzem über den Ozean, und den meisten war es

noch zu neu. Der Himmel war niedrig und bewölkt, Eugens Pfeife ging aus, er wollte sie wieder anzünden, aber der Wind war zu stark. Der Kapitän, der erfahren hatte, daß Eugen etwas von Mathematik verstand, lud ihn in die Steuerkabine ein.

Ob er sich auch für Navigation interessiere? Nicht im geringsten, antwortete Eugen.

Früher, sagte der Kapitän, wäre so starke Bewölkung ein Problem gewesen, aber heute navigiere man ohne Sterne, man habe jetzt genaue Uhren. Mit einem Harri- son-Chronometer komme jeder Laie um die Erdkugel.

Also sei, fragte Eugen, die Zeit det großen Navigatoren vorüber? Kein Blight mehr, kein Humboldt?

Der Kapitän überlegte. Eugen wunderte sich, warum die Leute immer so lange brauchten, um zu antworten. Es war doch keine schwere Frage! Sie sei vorbei, antwortete der Kapitän schließlich, und werde nie wiederkehren.

In der Nacht, als Eugen mehr der Aufregung als des Motorenlärms und außerdem des Schnarchens seines irischen Kabinengenossen wegen nicht schlafen konnte, setzte ein veritabler Sturm ein: Wellen schlugen mit ungeheurer Kraft gegen den Stahlrumpf, die Motoren heulten, und als Eugen an Deck taumelte, traf ihn die Gischt mit solcher Wucht, daß er fast über Bord gegangen wäre. Triefend naß flüchtete er sich in die Kabine zurück. Der Ire unterbrach sein Gebet.

Er habe eine große Familie, sagte er in dürftigem Französisch, er sei für sie verantwortlich, er dürfe nicht sterben. Sein Vater sei hartherzig gewesen und habe nicht lieben können, seine Mutter sei früh gestorben, nun hole Gott auch ihn.

Seine Mutter lebe noch, sagte Eugen, und sein Vater habe vieles geliebt, bloß nicht ihn. Und er glaube nicht, daß Gott ihn schon bei sich haben wolle.

Am nächsten Morgen war der Ozean ruhig wie ein See. Der Kapitän beugte sich murmelnd über seine Karten, blickte durch den Sextanten und konsultierte die Harrison-Uhr. Sie seien weitab vom Kurs, nun müßten sie neuen Brennstoff aufladen.

Darum legten sie in Teneriffa an. Das Licht war gleißend hell, ein Papagei beobachtete sie neugierig vom Balkon eines gerade erst errichteten Zollhauses. Eugen ging an Land. Männer schrien Befehle, Kisten wurden verladen, spärlich bekleidete Frauen trippelten mit zierlichen Schritten auf und ab. Ein Bettler bat um Almosen, aber Eugen hatte nichts mehr. Ein Käfig öffnete sich, und eine Horde schreiender kleiner Affen stob wie eine Explosion in alle Richtungen davon. Eugen ließ den Hafen hinter sich und ging auf den Umriß des Kegelberges zu. Er fragte sich, wie es wäre, auf dem Gipfel zu sein. Man müßte weit sehen. Die Luft wäre sehr klar.

Am Wegrand war ein Gedenkstein. Ein Relief zeigte den Berg und daneben einen Mann mit Schal, Gehrock und Zylinder. Die Aufschrift verstand Eugen, mit Ausnahme des Namens, nicht. Er setzte sich auf einen Felsbrocken, blies Rauchwölkchen in die Luft und betrachtete das Bild auf dem Stein. Ein Einheimischer mit Poncho und Wollmütze blieb stehen, zeigte darauf, rief etwas auf Spanisch, zeigte auf den Boden, in die Höhe, wieder auf den Boden. Ein Tausendfüßler mit ungewohnt langen Fühlern kletterte Eugens Hosenbein hinauf. Er blickte sich um. So viele neue Pflanzen. Er fragte sich, wie sie

alle heißen mochten. Andererseits – wen interessierte es! Es waren bloß Namen.

Er kam zu einem ummauerten Garten, dessen Pforte offen stand. Orchideen klammerten sich an Baumstämme, das Zwitschern Hunderter Vögel durchdrang die Luft. In der Nähe der offenbar neu gebauten Mauer stand ein sehr dicker Baum. Seine Rinde war narbig und rauh, weit oben fächerte sich der Stamm in einen Busch von Ästen auf. Zögernd trat Eugen in seinen Schatten, lehnte sich an den Stamm und schloß die Augen. Als er sie wieder Öffnete, stand ein Mann mit einer Harke vor ihm und begann zu schimpfen. Eugen lächelte beschwichtigend. Der Baum sei wohl sehr alt? Der Gärtner stampfte mit dem Fuß auf den Boden und zeigte auf den Ausgang. Eugen bat um Entschuldigung, er habe ausgeruht, er habe für einen Moment geglaubt, ein anderer zu sein oder niemand, es sei ein solch angenehmer Ort. Der Gärtner hob drohend seine Harke, Eugen ging schnell davon.

Der Dampfer legte früh am Morgen ab, nach wenigen Stunden waren die Inseln außer Sichtweite. Tagelang lag der Ozean so ruhig da, daß es Eugen schien, sie bewegten sich nicht. Aber immer wieder zogen sie an Segelschiffen mit geblähten Takelagen, zweimal an anderen Dampfern vorbei. In einer Nacht glaubte Eugen ein Flackern in der Ferne zu sehen, aber der Kapitän riet ihm, nicht darauf zu achten, das Meer schicke Trugbilder, manchmal scheine es zu träumen wie ein Mensch.

Dann kamen stärkere Wellen, ein zerzauster Vogel tauchte aus dem Nebel auf, schrie mißlaunig und verschwand wieder. Der Ire fragte Eugen, ob sie sich zusam-

mentun wollten, ein Geschäft aufmachen, eine kleine Firma.

Warum nicht, sagte Eugen.

Er habe auch eine Schwester, sagte der Ire, sie sei unversorgt, schön sei sie nicht, aber sie könne kochen.

Kochen, sagte Eugen, gut.

Er stopfte den letzten Tabak in seine Pfeife, ging zum Bug und stand dort so lange mit vom Wind tränenden Augen, bis etwas sich im Abenddunst abzeichnete, durchscheinend zunächst und noch nicht ganz wirklich, aber dann immer deutlicher, und der Kapitän lachend antwortete, nein, diesmal sei es keine Chimäre und auch kein Wetterleuchten, das sei Amerika.

Zentaur 2006-02-27

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