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Remarque_Erich_Maria_-_Die_Nacht_von_Lissabon

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damals immer noch auf der Wanderschaft. Die Orte waren voll mit Flüchtlingen aus den okkupierten Gebieten, und auf den Straßen wimmelte es von Fahrzeugen aller Art, von Karren mit Betten und Hausrat und von flüchtigen Soldaten Ich kam zu einem kleinen Wirtshaus, das einen Garten mit ein paar Tischen hatte und dahinter einen Nutzgarten mit Gemüse und Obstbäumen. Die Wirtsstube war mit Fliesen belegt und roch nach verschüttetem Wein, frischem Brot und Kaffee.

Ein Mädchen mit bloßen Füßen bediente mich. Sie breitete ein Tischtuch aus und stellte Kanne, Tasse, Teller, Honig und Brot auf. Es war ein Luxus ohnegleichen; ich hatte das seit Paris nicht mehr gesehen. Draußen, hinter der staubigen Hecke, schob sich die zerbrochene Welt vorbei - hier, im Sonnenschatten der Bäume, hielt sich ein zitternder Fleck Friede, mit Bienengesumm und dem goldenen Licht des späten Sommers. Mir war, als könnte ich ihn auf Vorrat trinken, wie ein Kamel Wasser für die Reise durch die Wüste. Ich schloß die Augen und fühlte das Licht und trank.«

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»Am Bahnhof stand ein Gendarm. Ich kehrte um. Obschon ich nicht glaubte, daß mein Verschwinden schon bekanntgeworden sei, beschloß ich, lieber die Bahn fürs erste zu meiden. So wenig es auch immer auf uns ankommt, solange wir im Lager sind, so wertvoll werden wir plötzlich, wenn wir entkommen. Während ein Stück Brot zu schade für uns ist, solange wir da sind, ist nichts zu teuer, um uns wieder einzufangen, und ganze Kompanien werden dazu mobilgemacht. Ich fand einen Lastwagen, der mich ein Stück mitnahm. Der Fahrer schimpfte auf den Krieg, die Deutschen, die französische Regierung, die amerikanische Regierung und Gott; aber er teilte mit mir sein Mittagessen, bevor er mich absetzte. Ich ging eine Stunde auf der Landstraße weiter, bis ich zur nächsten Bahnstation kam. Da ich gelernt hatte, daß man sich nicht verstecken soll, wenn man nicht verdächtig werden will, verlangte ich eine Fahrkarte erster Klasse zum nächsten Ort. Der Beamte zögerte. Ich erwartete, daß er nach Papieren fragen wolle, und kam ihm zuvor, indem ich ihn anschnauzte. Er wurde verblüfft und unsicher und gab mir die Karte. Ich ging in ein Café und wartete dort bis zur Abfahrt des Zuges, der mit einer Stunde Verspätung tatsächlich ankann.

Es gelang mir, in drei Tagen zu Helens Lager zu kommen. Einen Gendarmen, der mich stellte, schrie ich auf deutsch an, während ich ihm den Paß von Schwarz unter die Nase hielt. Er fuhr erschreckt zurück und war froh, daß ich ihn in Ruhe ließ. Österreich gehörte zu Deutschland, und ein österreichischer Paß wirkte bereits wie eine Visitenkarte der Gestapo. Es war sonderbar, zu

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was allem das Dokument des toten Schwarz fähig war. Zu vielem mehr als ein Mensch - dieses bedruckte Stück Papier!

Man mußte einen Berg hinaufgehen, zwischen Ginster, Heide, Rosmarin und Wald hindurch, um zu Helens Lager zu gelangen. Ich kam nachmittags an. Das Lager war mit Draht eingezäunt, aber es wirkte nicht so trübsinnig wie Le Vernet, wahrscheinlich weil es ein Frauenlager war. Die Frauen hatten sich fast alle bunte Kopftücher und eine Art von Turbanen gemacht, und sie trugen farbige Kleider; das wirkte fast sorglos. Ich konnte es vom Walde her sehen.

Es machte mich plötzlich mutlos. Ich hatte äußerste Trostlosigkeit erwartet, in die ich wie ein Don Quichote und ein St. Georg einbrechen würde; jetzt aber schien man mich hier überhaupt nicht zu brauchen. Das Lager wirkte, als genüge es sich selbst.

Wenn Helen hier war, würde sie mich längst vergessen haben.

Ich blieb versteckt, um auszukundschaften, was ich tun sollte. In der Dämmerung kam eine Frau nahe an die Einzäunung. Andere kamen hinzu. Bald standen viele da. Sie standen still und sprachen kaum miteinander. Sie blickten mit Augen, die nichts sahen, durch den Draht. Das, was sie sehen wollten, war nicht da - Freiheit. Der Himmel wurde violett, die Schatten krochen vom Tal herauf, und man sah hie und da abgeschirmte Lichter. Die Frauen wurden zu Schatten, die ihre Farben verloren hatten und sogar ihre Körperlichkeit. Bleiche, formlose Gesichter schwebten in einer unregelmäßigen Reihe über den flachen, schwarzen Silhouetten hinter dem Draht. Dann lichteten sich die Reihen; eine nach der anderen gingen sie zurück. Die Stunde der Verzweiflung war vorbei. Ich hörte später, daß man sie im Lager so nannte.

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Nur noch eine Frau stand an der Einzäunung. Ich näherte mich ihr vorsichtig. ›Erschrecken Sie nicht‹, sagte ich französisch.

›Erschrecken?‹ fragte sie nach einer Weile. ›Wovor?‹ ›Ich möchte Sie um etwas bitten.‹

›Du brauchst nicht zu bitten, du Schwein‹, erwiderte sie. ›Gibt es denn nichts anderes in euren dämlichen Knochen?‹

Ich starrte sie an. ›Was meinen Sie?‹

›Stell dich nicht dümmer als du bist! Geh zum Teufel und platze an deinen verdammten Gelüsten! Habt ihr denn keine Frauen im Dorf! Müßt ihr hier herumstehen, ihr jammervollen Hunde?‹

Ich begriff, was sie meinte. ›Sie irren sich‹, sagte ich. ›Ich muß eine Frau sprechen, die hier im Lager ist.‹

›Das müßt ihr alle! Warum eine? Warum nicht zwei? Oder alle?‹

›Hören Sie zu!‹ sagte ich. ›Meine Frau ist hier. Ich muß meine Frau sprechen!‹

›Sie auch?‹ Die Frau lachte. Sie schien nicht zornig zu sein, nur müde. ›Ein neuer Trick! Jede Woche fällt euch was anderes ein!‹

›Ich bin hier zum ersten Mal!‹

›Dafür bist du schon ganz munter. Geh zum Teufel!‹

›Hören Sie doch zu‹, sagte ich auf deutsch. ›Ich möchte, daß Sie einer Frau im Lager Nachricht geben, daß ich hier bin. Ich bin Deutscher. Ich war selbst eingesperrt! In Le Vernet!‹

›Sieh einer an‹, sagte die Frau ruhig. ›Deutsch kann er auch. Verfluchter Elsässer! Die Syphilis soll dich fressen, du Lump! Dich und deine verdammten Kollegen, die hier abends an treten. Jedem einzelnen von euch soll der Krebs

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wegfressen, was ihr uns da hinhaltet! Habt ihr denn überhaupt kein Gefühl, ihr Ferkel? Wißt ihr nicht, was ihr tut? Laßt uns in Ruhe! Laßt uns in Ruhe!‹ sagte sie laut und hart. ›Ihr habt uns eingesperrt, ist das nicht genug? Laßt uns in Ruhe!‹ schrie sie.

Ich hörte andere kommen und sprang zurück. Die Nacht über blieb ich im Walde. Ich wußte nicht wohin. Ich lag zwischen den Stämmen und sah das Licht ganz erlöschen und dann den Mond heraufkommen über die Landschaft, blaß und wie weißes Gold und schon mit Nebeln und Dunst und der Kühle des Herbstes. Am Morgen ging ich zurück nach unten. Ich fand jemand, der meinen Anzug gegen einen blauen Monteur-Overall tauschte.

Ich ging zurück zum Lager. Bei der Wache erklärte ich, ich müsse nach dem elektrischen Licht sehen. Mein Französisch war gut genug, so daß man mich einließ, ohne weiter zu fragen. Wer wollte auch schon freiwillig in ein Internierungslager?

Ich durchstreifte vorsichtig die Lagerstraßen. Die Frauen lebten wie in großen Kisten, die durch Vorhänge abgeteilt waren. Es gab einen unteren und einen oberen Stock in den Baracken. In der Mitte war ein Gang, und zu beiden Seiten hingen Vorhänge. Viele waren offen und man konnte sehen, wie die Gelasse eingerichtet waren. Nur das Nötigste war da in den meisten; aber manche hatte trotzdem mit einem Tuch, ein paar Postkarten, einer Fotografie eine persönliche Note bekommen, so armselig sie auch war. Ich strich durch die halbdunklen Baracken, und die Frauen hörten auf zu arbeiten und sahen mich an. ›Nachrichten?‹ fragte mich eine.

›Ja - für jemand, der Helen heißt. Helen Baumann.‹ Die Frau dachte nach. Eine zweite kam hinzu. ›Ist das nicht das Naziluder, das in der Kantine arbeitet?‹ fragte sie. ›Die, die mit dem Arzt rumhurt?‹

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›Sie ist kein Nazi‹, sagte ich.

›Die in der Kantine auch nicht‹, erwiderte die erste Frau. ›Ich glaube, sie heißt Helen.‹

›Sind hier Nazis?‹ fragte ich.

›Natürlich. Hier ist alles durcheinander. Wo sind die Deutschen jetzt?‹

›Ich habe keine gesehen.‹

›Es soll eine Militärkommission kommen. Haben Sie etwas davon gehört?‹

›Nein.‹

›Sie soll kommen, um die Nazis aus den Lagern zu befreien. Aber die Gestapo soll auch kommen. Wissen Sie davon was?‹

›Nein.‹

›Die Deutschen sollen sich nicht um die unokkupierte Zone kümmern.‹

›Das sähe ihnen ähnlich.‹ ›Sie wissen nichts davon?‹ ›Gerüchte, sonst nichts.‹

›Von wem ist die Nachricht für Helen Baumann?‹ Ich zögerte. ›Von ihrem Mann. Er ist frei.‹

Die zweite Frau lachte. ›Der wird staunen!‹ ›Kann man in die Kantine gehen?‹ fragte ich. ›Warum nicht? Sind Sie kein Franzose?‹ ›Elsässer.‹

›Haben Sie Angst?‹ fragte die zweite Frau. ›Warum? Haben Sie was zu verbergen?‹

›Gibt es heute noch jemand, der nichts zu verbergen hat?‹

›Das können Sie ruhig noch einmal sagen‹, erwiderte die

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erste Frau. Die zweite sagte nichts. Sie musterte mich, als wäre ich ein Spion. Ihr Maiglöckchen-Parfüm umstand sie wie eine Wolke.

›Danke‹, sagte ich. ›Wo ist die Kantine?‹

Die erste Frau beschrieb mir den Weg. Ich ging durch das Halbdunkel der Baracke, als hätte ich Spießruten zu laufen. Zu beiden Seiten tauchten Gesichter und forschende Augen auf. Ich fühlte mich, als wäre ich in einen Amazonenstaat geraten. Dann kam die Straße wieder, die Sonne und der müde Geruch der Gefangenschaft, der über jedem Lager steht wie eine graue Lasur.

Ich war wie blind. Ich hatte nie an Helens Treue oder Untreue gedacht. Es war zu sehr am Rande gewesen, zu unbedeutend; - zu viel war geschehen, und nur am Leben zu bleiben war so wichtig gewesen, daß das andere dagegen kaum existiert hatte. Selbst wenn es mich gequält hätte in Le Vernet, dann wäre es abstrakt gewesen, ein Gedanke, eine Vorstellung, von mir selbst erfunden und ausgelöscht und wieder aufgenommen.

Jetzt aber stand ich zwischen ihren Gefährtinnen. Ich hatte sie am Abend vorher an der Einzäunung gesehen, und nun sah ich sie wieder, hungrige Frauen, die seit vielen Monaten allein waren und die trotz der Gefangenschaft Frauen waren und es gerade deswegen stärker fühlten. Was sonst war ihnen geblieben?

Ich ging zur Baracke mit der Kantine. Eine blasse Frau mit roten Haaren stand da zwischen anderen, die Lebensmittel kauften. ›Was wollen denn Sie?‹ fragte sie. Ich schloß die Augen und machte eine Bewegung mit dem Kopf Dann trat ich beiseite. Sie überblickte rasch ihre Kunden. ›In fünf Minuten‹, flüsterte sie. ›Gut oder schlecht?‹

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Ich begriff, daß sie meinte, ob ich gute oder schlechte Nachrichten bringe. Ich zog die Schultern hoch. ›Gut‹, sagte ich dann und ging hinaus.

Nach einer Weile kam die Frau und winkte mir. ›Man muß vorsichtig sein‹, erklärte sie. ›Für wen haben Sie Nachrichten?‹

›Helen Baumann. Ist sie hier?‹ ›Warum?‹

Ich schwieg. Ich sah die Sommersprossen über der Nase und die unruhigen Augen. ›Arbeitet sie in der Kantine?‹ fragte ich.

›Was wollen Sie?‹ fragte die Frau zurück. ›Auskunft? Ein Monteur? Für wen?‹

›Für ihren Mann.‹

›Das letzte Mal‹, sagte die Frau bitter, ›fragte jemand dasselbe für eine andere Frau. Sie wurde drei Tage später abgeholt. Wir hatten verabredet, sie solle uns Nachricht geben, wenn es gut gegangen sei. Wir haben nie Nachricht bekommen, Sie falscher Monteur!‹

›Ich bin ihr Mann‹, sagte ich.

›Und ich bin Greta Garbo‹, sagte die Frau. ›Weshalb sonst sollte ich Sie fragen?‹

›Nach Helen Baumann‹, sagte die Frau, ›ist oft gefragt worden. Von merkwürdigen Leuten. Wollen Sie die Wahrheit? Helen Baumann ist tot. Sie ist vor zwei Wochen gestorben und beerdigt worden. Das ist die Wahrheit. Ich dachte, Sie brächten Nachrichten von draußen.‹

›Sie ist tot?‹

›Tot. Und nun lassen Sie mich in Ruhe.‹

›Sie ist nicht tot‹, sagte ich. ›In den Baracken weiß man

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das besser.‹

›In den Baracken wird viel Unsinn geredet.‹

Ich sah die rothaarige Frau an. ›Wollen Sie ihr einen Brief geben? Ich gehe - aber ich möchte einen Brief hinterlassen.‹

›Wozu?‹

›Wozu nicht? Ein Brief bedeutet nichts. Er tötet nicht und liefert nicht aus.‹

›Nein?‹ sagte die Frau. ›Seit wann leben Sie?‹

›Das weiß ich nicht. Ich habe es auch nur stückweise getan und wurde oft unterbrochen. Können Sie mir ein Stück Papier und einen Bleistift verkaufen?‹

›Da ist beides‹, sagte die Frau und zeigte auf einen kleinen Tisch. ›Wozu wollen Sie an eine Tote schreiben?‹

›Weil das heute oft geschieht.‹

Ich schrieb auf einen Zettel: ›Helen, ich bin hier. Draußen. Heute abend. Am Drahtzaun. Ich warte.‹

Ich klebte den Brief nicht zu. ›Wollen Sie ihn ihr geben?‹ fragte ich die Frau.

›Es gibt heute viele Verrückte‹, antwortete sie. ›Ja oder nein?‹

Sie las den Brief, den ich ihr hinhielt. ›Ja oder nein?‹ wiederholte ich.

›Nein‹, sagte sie.

Ich legte den Brief auf den Tisch. ›Zerstören Sie ihn wenigstens nicht‹, sagte ich.

Sie erwiderte nichts. ›Ich komme zurück und bringe Sie um, wenn Sie verhindern, daß dieser Brief in die Hände meiner Frau kommt‹, sagte ich.

›Sonst noch was?‹ fragte die Frau und starrte mich mit ihren flachen grünen Augen in dem verbrauchten Gesicht

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an.

Ich schüttelte den Kopf und ging zur Tür. ›Sie ist nicht hier?‹ fragte ich und drehte mich noch einmal um.

Die Frau starrte mich an und antwortete nicht. ›Ich bin noch zehn Minuten im Lager‹, sagte ich. ›Ich komme noch einmal wieder, um zu fragen.‹

Ich ging durch die Lagergasse. Ich glaubte der Frau nicht; ich wollte einige Zeit warten und dann in die Kantine zurückgehen, um Helen zu suchen. Aber plötzlich fühlte ich, wie mich der Mantel unsichtbarer Protektion verließ - ich war auf einmal riesenhaft groß und wehrlos und mußte mich verstecken.

Ich trat aufs Geratewohl in eine Tür. ›Was wollen Sie?‹ fragte mich eine Frau.

›Ich soll die elektrische Leitung nachsehen. Ist hier etwas kaputt?‹ sagte jemand neben mir, der ich war.

›Hier ist nichts kaputt. Aber hier war nie etwas heil.‹

Ich sah, daß die Frau einen weißen Kittel trug. ›Ist dies das Hospital?‹ fragte ich.

›Dies ist die Krankenbaracke. Sind Sie hierher bestellt worden?‹

›Meine Firma hat mich von unten geschickt. Die Leitungen sollen nachgesehen werden.‹

›Sehen Sie nach, was Sie wollen‹, sagte die Frau. Ein Mann in Uniform kam vorbei. ›Was gibt’s?‹

Die Frau im weißen Kittel erklärte es ihm. Ich sah den Mann an. Mir kam vor, daß ich ihn von irgendwoher kannte. ›Elektrizität?‹ sagte er. ›Medizin und Vitamine wären verdammt wichtiger!‹

Er schleuderte seine Kappe auf den Tisch und ging. ›Hier ist alles in Ordnung‹, sagte ich zu der Frau in

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