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Mythos bernsteinzimmer
Filigrane Puzzlearbeit mit 500 000 Teilen: Das „achte Weltwunder"
Von Janet Schayan
Die Legende lebt: Ende Mai wird das komplett rekonstruierte Bernsteinzimmer bei St. Petersburg eröffnet. Es ist Symbol der deutsch-russischen Freundschaft und zugleich Sinnbild der wechselvollen Geschichte beider Länder
Wunder dauern etwas länger. In diesem Fall genau 24 Jahre. Jetzt leuchtet es wieder wie einst in barockem Glanz, in Tönen zwischen Honig, Karamel, Orangeat und Kirsche: das „achte Weltwunder", das geheimnisumwitterte Bernsteinzimmer. Oder besser: die perfekte Kopie der barocken Legende. Noch sind die kostbaren Wanddekorationen des Zimmers - das mit seinen 100 Quadratmetern besser Saal zu nennen wäre - nicht ganz fertig. Noch surren die Schleifer und Bohrer in der Masterskaja, der Werkstatt in einem Nebentrakt des Katharinenpalastes von Zarskoje Selo (Puschkin), bis spät am Abend. Geräusche wie beim Zahnarzt. Fünfzig Männer und Frauen sind hier fieberhaft dabei, die letzten Stücke eines 500 000-Teile-Puzzles herzustellen und zusammenzufügen. Sie müssen einen wichtigen Termin halten: Am 31. Mai, zum 300. Jahrestag der Gründung St. Petersburgs, soll das bis ins Detail akribisch genau rekonstruierte Bernsteinzimmer feierlich eröffnet werden, im Beisein des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Eine Verspätung kann sich das Rekonstruktionsteam, zu dem Steinschneider, Juweliere, Architekten und Graveure gehören, also nicht leisten. Hektik aber schon gar nicht, denn die schadet der anspruchsvollen, millimeterfeinen Arbeit und könnte kurz vor der Zielgeraden die Anstrengungen von zwei Jahrzehnten zunichte machen. Aber alle Beteiligten sind zuversichtlich: Bernsteinzimmer Nummer zwei wird pünktlich fertig sein.
Der Festakt im Mai markiert ein historisches Ereignis und zugleich ganz sicher einen der Höhepunkte der zwei Jahre dauernden deutsch-russischen Kulturbegegnungen 2003 und 2004. Eine Feierstunde mit Symbolcharakter, denn das Bernsteinzimmer ist ein Unterpfand deutsch-russischer Freundschaft zugleich aber immer auch Sinnbild der wechselhaften Geschichte zwischen beiden Ländern gewesen: Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. schenkte das vom Vater geerbte „Bernsteinkabinett" 1716 als Zeichen seiner Wertschätzung und Verbundenheit Zar Peter dem Großen. Das fossile Baumharz, aus dem die kostbaren Schnitzereien und Mosaikteile der Wandpaneele gefertigt wurden, stammt aus dem damals ostpreußischen Königsberg und heute russischen Kaliningrad, wo seit dem 18. Jahrhundert der bis heute weltweit größte Abbau von Bernstein betrieben wird.
Etwa 45 Millionen Jahre alt ist dieses „Gold des Nordens", dessen Bearbeitung höchste Kunstfertigkeit fordert. Damals wie heute. Zehn Jahre lang hatten die Handwerker schon an der Ursprungsfassung des Bernsteinzimmers gearbeitet.
Anno 1755 zog der komplette Saal, erweitert um Spiegelpaneele und Steinmosaiken, um in den 30 Kilometer vor St. Petersburg gelegenen Katharinenpalast und diente hier gut anderthalb Jahrhunderte lang als Prunk- und Paradezimmer der russischen Zarinnen und Zaren. Im Zweiten Weltkrieg, 1941, weckte das Geschenk des Preußenkönigs die Gier der in St. Petersburg einrückenden deutschen Wehrmacht: Die Soldaten demontierten die meterhohe, bis in den letzten Winkel mit Bernstein besetzte Wandverkleidung des kompletten Raums, verpackten alles in 27 Kisten und verfrachteten das Zimmer kurzerhand ins Königsberger Schloss, zurück nach Preußen. Aber nicht für lange. Schon 1944 wurde das Bernsteinzimmer aus Angst vor Zerstörung wieder reisefertig verpackt. Und das war das Letzte, was man lange Zeit vom „achten Weltwunder" sicher wusste. Danach verlor sich die Spur in den Weltkriegswirren. An abenteuerlichen Theorien über den Verbleib des Ensembles mangelte es nie: Kunstexperten, Schatzsucher, Geheimagenten, Verschwörungstheoretiker und Wünschelrutengänger vermuteten das Bernsteinzimmer wechselweise in vergessenen Geheimdepots, in amerikanischen Safes, in ostdeutschen Bergwerksstollen oder gar auf dem Grund der Ostsee. Nach jüngsten Erkenntnissen aber bleibt nicht mehr viel Raum für Spekulationen: Der Verleger und Ausstellungsmacher Tete Böttger aus Göttingen, seit vielen Jahren ein Experte für das Bernsteinzimmer, hat Dokumente entdeckt - die in den nächsten Monaten in Büchern und Filmdokumentationen des deutschen Fernsehens publiziert werden: Sie belegen, dass in jedem Fall die Sockelelemente des Bernsteinzimmers zum Schutz vor Bombenangriffen aus Königsberg an die Partneruniversität Göttingen geschickt wurden. Die Göttinger lagerten den Schatz zusammen mit Teilen ihrer Universitätsbibliothek in einem Kalibergwerkstollen in Volpriehausen. Der aber diente zugleich als Munitionslager - und explodierte 1945 mit fast dem gesamten eingelagerten Gut. In russischen Archiven, so Böttger, hätten sich inzwischen zudem Belege gefunden, die nachweisen, dass der Rest des Bernsteinzimmers tatsächlich bei Bombenangriffen auf Königsbergverbrannt sei: Im Brandschutt des Schlosses seien von russischen Offizieren mehrere unbrennbare Teile aus dem Zimmer gefunden worden. Der Bernstein selber nicht, denn das fossile Harz brennt extrem leicht 1997 tauchte urplötzlich in Bremen ein Original-Mosaiksteinbild aus dem Bernsteinzimmer auf und fast zeitgleich in Berlin eine Kommode, die mit Sicherheit zur Ausstattung des Zimmers gehört hatte. Das führte zu neuen Spekulationen und beflügelte die Jäger des verlorenen Schatzes einmal mehr. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass genau diese beiden Teile beim Raub des Bernsteinzimmers durch die deutschen Soldaten ohnehin nie in Königsberg angekommen waren - und also auch dies kein Beweis dafür ist, dass das Bernsteinzimmer noch existieren könnte. Die Kommode und das Mosaik, beide zweifellos echt, übergab der damalige Kulturstaatsminister Michael Naumann im Jahr 2000 an Präsident Putin - eine politische Geste in Sachen „Beutekunst" und die erste Gelegenheit überhaupt für das russische Rekonstruktionsteam nach knapp zwanzig Jahren Mühen das eigene Werk mit einem Original zu vergleichen.
Das Ergebnis: Die Bernsteinzimmerkopisten können sehr zufrieden sein. Ihre Arbeit, die sie lediglich auf Grundlage von Archivunterlagen, siebzig Jahre alten Fotos und gerade einmal 80 original erhaltenen Bernsteinplättchen leisten, kann sich sehen lassen: Die von ihnen gefertigte Replik des Steinmosaiks gleicht dem Original bis auf winzige Details. Die jahrelange akribische Vorbereitungs- und detektivische Wiederherstellungsarbeit, das Erforschen und Neubeleben der Techniken der alten Meister, wie das Färben des Bernsteins in kochendem Honig, die Sorgfalt beim Kleben der Mosaike und Schleifen der zahllosen Zierelemente, Putten und Girlanden hat sich also gelohnt.
Wenn das Bernsteinzimmer bald als perfekte Kopie und Wiedergänger des Mythos in Zarskoje Selo besichtigt werden kann, ist das auch Teil einer deutsch-russischen Erfolgsgeschichte: Der glückliche Abschluss der Rekonstruktion ist ganz wesentlich der deutschen Ruhrgas AG aus Essen zu verdanken, die als Alleinsponsor des Projektes 3,5 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt hat. Zwar hatte die sowjetische Regierung bereits 1979 beschlossen, das Bernsteinzimmer neu aufbauen zu lassen. Aber aus Geldmangel gerieten die Arbeiten ins Stocken, mal konnten die Löhne der Handwerker nicht bezahlt werden, mal reichte das Budget nicht für den Ankauf des Bernsteins. Insgesamt acht Tonnen des Materials wurden benötigt. Es kommt übrigens, wie schon im 18. Jahrhundert aus derselben Grube bei Kaliningrad. Im Jahr 2000 sprang die Ruhrgas AG, einer der größten Importeure von russischem Erdgas in Europa, finanziell zur Seite. Zum einen wegen der langjährigen guten Beziehungen zu Russland, zum anderen, um sich selbst ein Geschenk zum 75. Jahrestag der Firmengründung zu machen.
Das Ergebnis werden Präsident Putin und Bundeskanzler Schröder Ende Mai mit als Erste begutachten können. Der Programmpunkt „Eröffnung des Bernsteinzimmers" ist einer von rund 350 der „Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen". Im Februar hatten Bundespräsident Johannes Rau und Präsident Putin diesen zwei Jahre dauernden Kulturmarathon im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt feierlich gestartet: In über 30 deutschen und russischen Städten wird Film, Theater, Kunst, Tanz und Literatur gezeigt. Zu den Höhepunkten 2003 zählen die Musikfestspiele Saar, die Berliner Festwochen und die Frankfurter Buchmesse, die jeweils Russland als Schwerpunktland vorstellen.
Die Idee zu dem großen Kulturprogramm entstand 2001: „Ausgehend von der Tatsache, dass Deutschland und Russland durch ein festes Band gemeinsamer Kultur und Geschichte verbunden sind und dass Kultur die Fähigkeit besitzt, Grenzen zu überwinden und Vertrauen zu vertiefen", wie es in der offiziellen Erklärung heißt. Auf deutscher Seite zeichnen Kulturstaatsministerin Christina Weiss und das Auswärtige Amt verantwortlich, auf russischer hat Kulturminister Michail Schwydkoi die Koordination übernommen. Vor allem zeitgenössische Kunst wollen Deutsche und Russen dabei einander nahe bringen. Da fällt das Bernsteinzimmer eigentlich etwas aus dem Konzept. Andererseits: Die Arbeit der 50 Kunsthandwerker im Petersburger Katharinenpalast ist auch eine höchst aktuelle Leistung. Schließlich ist das neue Bernsteinzimmer „made 2003".