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Eine Schule ohne Zensuren Die Waldorfschule wird 75 Jahre alt

Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder auf eine Waldorfschule. Sie ziehen diese private Gesamtschule einer traditionellen Staatsschule vor, weil dort nicht nur die intellektuelle Leistung zählt, sondern die emotionale, soziale und künstlerisch-musische Entwicklung ihrer Kinder im Vordergrund steht.

Von Sabine Etzold

Eine Schule, in der die Kinder nicht nach Begabung und Leistung sortiert werden, es keine Zensuren gibt und keiner sitzenbleiben kann, in der sie wie von selbst lernen und schließlich genauso viele das Abitur machen wie überall im Lande – eine solche Schule gibt es nicht? Falsch, in diesen Tagen feiert dieses Schulwunder sein 75jähriges Bestehen. Im September 1919 wurde in Stuttgart die erste Waldorfschule gegründet, heute ist deren Zahl in Deutschland auf über 150 gewachsen.

In der ganzen Welt – von Australien bis Uruguay – sind es etwa 600 Waldorfschulen, die den Schulpolitikern und Bildungsbürokraten der staatlichen Anstalten, aber auch einer skeptischen Öffentlichkeit täglich vorführen, wozu eine Schule in der Lage ist: Es geht eben auch ohne Zeugnisnoten und Leistungsdruck; Fremdsprachenunterricht gibt es schon von der ersten Klasse an, und neben dem klassischen Fächerkanon (Deutsch, Fremdsprachen, Mathematik) lernen auch die Jungen Stricken und die Mädchen Schreinern. Ein soziales und ein landwirtschaftliches Praktikum gehören zum Pensum – letzteres selbstverständlich beim Ökobauern. Daneben wird noch gegärtnert, getöpfert, Theater gespielt, Musik gemacht, gemalt. Die Lehrer – nicht nur Akademiker, sondern manchmal auch Hauswirtschaftler, Handwerksmeister, Bauingenieure – verdienen zwar weniger, arbeiten dafür aber mehr als ihre Kollegen an „normalen“ Schulen. Sie sind nicht verbeamtet, sondern nur angestellt und haben außer der üblichen Lehrerausbildung noch eine zweijährige Waldorfausbildung hinter sich.

Ein pädagogisches Paradies also, eine Oase innerhalb einer verödenden, vertrocknenden Schullandschaft? Immer mehr Eltern scheinen das zu glauben. Der Andrang auf die Waldorfschulen ist groß und wächst weiter.

Wer immer sich auf dieses pädagogische Konzept einlässt, sollte vorher wissen, was er tut. Immerhin kostet dieser Weg auch Schulgeld – gestaffelt nach Elterneinkommen. Die Armen müssen nichts bezahlen. Waldorfschulen sind keine Privatgymnasien für den leistungsschwachen Nachwuchs des Bildungsbürgertums, sondern wurden als Schulen für Proletarierkinder geschaffen. Sie halten die völlige Unabhängigkeit vom Staat für die grundlegende Voraussetzung nicht nur der eigenen, sondern jeglicher geistigen Freiheit, und sie arbeiten nach wie vor konsequent auf der Grundlage der von Rudolf Steiner begründeten Anthroposophie mit der ihr eigenen Pädagogik.

Die erste Waldorfschule war eine Stiftung von Emil Molt, dem Direktor der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, der Rudolf Steiner gebeten hatte, für die Kinder der Arbeiter eine Schule nach seinen Erkenntnissen zu gründen. Grundbedingung für Steiner war eine Befreiung vom Staat, denn: „Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt, und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen.“

Aus diesem Denken resultierte ein – wie wir es heute nennen würden – konsequentes Gesamtschulmodell. Das dauert zwölf Schuljahre lang und mindestens bis zum 18. Lebensjahr. Die Schüler – Begabte und Unbegabte, praktisch oder theoretisch Veranlagte, Brave und Rebellische, Ausländer-, Arbeiter- und Anthroposophenkinder – bleiben die gesamte Schulzeit über in einer Klasse, trennen sich nur zum Fachunterricht. Bis zum 8. Schuljahr behalten sie in der Regel auch denselben Klassenlehrer. Dieses Durcheinander ganz verschiedener Schüler-Temperamente hemmt nicht, sondern fördert nach Ansicht der Waldorfpädagogen die Entwicklung aller. Da kognitives Lernen genauso viel oder wenig gilt wie handwerkliches und künstlerisches, findet jedes Kind seinen Bereich, in dem es sein Selbstbewusstsein stabilisieren kann. Ein hoher pädagogischer Anspruch, um den auch bei Waldorf immer wieder – und mitunter vergeblich – gerungen wird.

Erst kurz vor dem Abitur, wenn die Staatsbürokratie Leistungsnachweise für den Hochschulzugang sehen will, wird auch hier in konventioneller Manier gepaukt. Dann gehen, so erklärt der Waldorfpädagoge Stefan Leber, „die Waldorfschulen den Kompromiss ein, in den Abschlussklassen ihre pädagogische Konzeption mehr oder weniger stark beeinträchtigen zu lassen“. Und spätestens jetzt zeigt sich, dass es auch anders geht. Die Zahl derjenigen, die das Abitur schaffen, weicht nicht wesentlich vom Bundesdurchschnitt ab.

Vom Staat werden sie – als Schulen in freier Trägerschaft im Grundgesetz garantiert – mehr oder weniger wohlwollend geduldet. Die größte Bedrohung kommt – trotz gelegentlicher Staatsschikanen - nicht von außen, sondern ist hausgemacht: Viele Waldorfschulen tun sich schwer, sich von ihrem Konzept so weit zu lösen, dass sie nicht vollkommen an der Realität einer audiovisuellen Multi-Kulti-Gesellschaft vorbeileben. Vor allem die vielen Neugründungen in den neuen Bundesländern flüchten sich mitunter regelrecht auf eine wirklichkeitsferne Waldorfinsel, wo Fernsehen, Computer, gar Kassettenrecorder oder Telephone als menschenverderbendes Teufelszeug gelten.

Doch nicht nur dort besteht die Gefahr, dass die 75jährige Pädagogik Rudolf Steiners – der Kalauer sei verziehen – regelrecht „versteinert“. Viele Waldorfschulen sind sich dieser Gefahr inzwischen bewusst geworden. Die Auseinandersetzung mit moderner Technik wie Computerkurse und Informatikunterricht, hält zögernd auch bei Waldorf Einzug.

Presse und Sprache

30.09.1994

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