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Немецкий для политологов и право

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Krankenhäuser müssen sich künftig einer Sicherheitsprüfung unterziehen. Beide Maßnahmen wurden zunächst auf fünf Jahre begrenzt. Beamte der Bundespolizei begleiten als «Sky Marshals» ausgewählte deutsche Linienmaschinen, um Flugzeugentführungen zu verhindern.

Mit dem § 14 Absatz 3 des Luftsicherheitsgesetzes vom 11. Januar 2005 erhielten zudem die Streitkräfte die Erlaubnis, Flugzeuge abzuschießen, wenn von ihnen eine terroristische Gefahr ausgeht. Mit seiner Entscheidung vom 15. Februar 2006 erklärte das Bundesverfassungsgericht diesen Punkt des Luftsicherheitsgesetzes allerdings für verfassungswidrig, weil der Staat das Leben von Unbeteiligten oder Opfern einer Gewalttat nicht gefährden dürfe. Die übrigen Gesetzesbestimmungen, insbesondere die verschärften Sicherheitsüberprüfungen auf Flughäfen, blieben in Kraft.

Als Anfang August 2006 in den Bahnhöfen von Dortmund und Koblenz zwei Kofferbomben gefunden wurden, konnten die Sicherheitsbehörden die Sprengsätze schnell dem terroristischen Umfeld zuordnen. Als Tatverdächtige wurden zwei Libanesen identifiziert. Damit war klar, dass auch Deutschland sich im Fokus des islamistischen Terrors befand.

Politiker der CDU/CSU, allen voran Bundesinnenminister Schäuble, fordern im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung immer wieder der Einsatz der Bundeswehr im Innern. Nach ihrer Meinung soll sie vor allem Bewachungsaufgaben übernehmen; die übrigen Parteien lehnen diese Vorschläge einhellig ab, ebenso wie die Polizeibehörden, die darauf verweisen, dass Soldaten nicht für die Polizeiarbeit ausgebildet sind [33, c. 479–480].

Text 18.

Iran und Libanon – Brennpunkte deutscher Außenpolitik

Mit dem Amtsantritt des Präsidenten Mahmud Ahmadinejad am 3. August 2005 hatte sich das konservative Lager in Iran auf ganzer Linie durchgesetzt, was sich in einem radikalen außenpolitischen Kurswechsel verdeutlichte. Iran pochte jetzt v. a. nachdrücklich auf sein Recht einer eigenständigen Atompolitik; auch die Im Vertrag zur Nichtverbreitung von Atomwaffen festgelegten, unangemeldeten Kontrollen durch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA wollte Iran nicht mehr bedingungslos hinnehmen.

Im Auftrag der EU bemühten sich Deutschland – einer der wichtigsten Handelspartner Irans -, Großbritannien und Frankreich im Streit um Irans Programm zur Urananreicherung um eine diplomatische

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Beilegung des Konflikts. Vor allem den USA gilt die Urananreicherung als Vorstufe zur Entwicklung von Kernwaffen. Provokante Äußerungen Irans

– auch zur Vernichtung Israels – und der USA bewirkten eine Konfliktdynamik, die eine Lösung zunehmend erschwerte. Den russischen Vorschlag, Iran solle mit russischer Hilfe eine Anreicherung auf „neutralem Boden“ gestattet werden, lehnte Iran, aber auch Washington ab. Anfang Juni 2006 vollzog die Regierung Bush jedoch eine Kehrtwende: Sie kündigte an, sich an den Verhandlungen über ein iranisches Atomprogramm beteiligen zu wollen; mögliche Sicherheitsgarantien für Iran untermauerten das Angebot.

Am 31. Juli 2006 beschloss der UN -Sicherheitsrat eine Resolution, in der Iran aufgefordert wird, die Auflagen der IAEA einzuhalten und die Urananreicherung einzustellen. Nachdem Iran die bis zum 31. August eingeräumte Frist hatte verstreichen lassen, wurden neue Gespräche mit den iranischen Vertretern geführt. Zusätzliche Brisanz erfuhr der Konflikt mit Iran durch den Atomtest, den Nord-Korea im Oktober 2006 durchführte.

Zur Sicherung der Grenzen Libanons von See her entsandte Deutschland im September 2006 Einheiten der Bundesmarine. Vorausgegangen war ein Krieg, in dem Israel v. a. durch Luftangriffe große Teile der libanesischen Infrastruktur zerstörte und in dem die schiitische Hisbollah, eine von Iran und Syrien unterstützte politischmilitärische Organisation, vom Südlibanon aus mehrere Tausend Kurzstreckenraketen auf den Norden Israels abfeuerte. Anlass der israelischen Offensive war die Entführung zweier israelischer Soldaten durch die Hisbollah am 12. Juli 2006. Nach zunächst erfolglosen internationalen diplomatischen Bemühungen brachte erst die Resolution 1701 des UN -Sicherheitsrats vom 11. August 2006 ein Ende der Gewalt. Sie sah u. a. die Entwaffnung aller bewaffneten Gruppen im Libanon mit Ausnahme der libanesischen Armee und eine Aufstockung der bereits im Südlibanon stationierten UN-Truppen von 2 000 auf 15000 Mann vor.

Um eine Beteiligung der Bundeswehr an dieser UN-Mission entwickelte sich eine heftige Diskussion in Deutschland. Einige meinten, angesichts der deutsch-jüdischen Vergangenheit müsse auf jeden Fall ausgeschlossen werden, dass sich deutsche und israelische Soldaten gegenüberstehen, doch Israels Ministerpräsident Olmert bat ausdrücklich um die Beteiligung deutscher Soldaten. Angesichts der übrigen Auslandseinsätze (Bosnien, Kosovo, Afghanistan, Horn von Afrika, Kongo) befürchteten manche eine Überforderung der Bundeswehr.

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Umfragen ergaben, dass die Deutschen mehrheitlich gegen den Einsatz waren. Jedoch in der Überzeugung, sich ihrer internationalen Verantwortung nicht entziehen zu können, beschloss die Bundesregierung am 13. September 2006, der UN-Truppe für den Libanon 2400 Soldaten zur Grenzsicherung zur See (Verhinderung von Waffenschmuggel) zur Verfügung zu stellen. Der Bundestag stimmte mit Mehrheit am 20. September 2006 zu [33, c. 487–488].

Text 19.

Die Globalisierung

und Deutschlands Rolle in der Welt

Der Begriff «Globalisierung» tauchte erstmals Anfang der 1970erJahre im Zusammenhang mit Satellitenfotos vom »Blauen Planeten« Erde auf. Heute bezeichnet er hauptsächlich den Prozess der Entstehung weltweiter Märkte für Produkte, Kapital und Dienstleistungen. Die OECD, die bedeutendste Organisation der westlichen Industriestaaten, versteht daher unter Globalisierung einen Prozess, durch den Märkte und Produktion in verschiedenen Ländern immer abhängiger voneinander werden – dank der Dynamik des Handels mit Gütern und Dienstleistungen und durch die Bewegungen von Kapital und Technologie. Zu den Grundelementen der Globalisierung gehören zunehmende internationale Verflechtung und Arbeitsteilung, zwischenstaatliche Konkurrenz, kulturelle Veränderungen und der supranationale Umweltschutz.

Die wachsende internationale Verflechtung und Arbeitsteilung wurde gefördert durch einen Abbau der Schutzwälle (Zölle und importhemmende Vorschriften) um die Volkswirtschaften (außenwirtschaftliche Liberalisierung), den Abbau staatlicher Vorschriften im Innern (Deregulierung), die Befreiung der Geldwirtschaft von nahezu allen staatlichen Fesseln, die Entstehung eines dichten Informationsnetzes, sinkende Transportkosten und zunehmende Vereinheitlichung technischer Normen. Der Zusammenbruch des kommunistischen Weltsystems zu Beginn der Neunzigerjahre beschleunigte diesen Prozess ebenso wie auch die Öffnung Chinas für die Marktwirtschaft.

Die Globalisierung hat für Deutschland Folgen nach innen und außen, da neben den Warenund Arbeitsmärkten auch die Staaten selbst aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen inneren Verhältnisse als Produktionsstandorte im Wettbewerb zueinander stehen. Daher wird zunehmend nach der Qualität des «Standorts Deutschland» gefragt und werden seine hohen Sozialstandards, seine Steuerlasten, ökologischen und

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arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften im internationalen Wettbewerb diskutiert. Die aktiven Verfechter der Globalisierung verweisen darauf, dass sich Deutschland der Globalisierung und ihren Folgen nicht entziehen könne. Statt der Erosion sozialer Sicherungssysteme tatenlos zuzusehen oder ihnen mithilfe von bequemen Korrekturen eine falsche Richtung zu geben, sollten diese Institutionen zu einem positiven Standonfaktor umgestaltet werden. Die deutsche Politik ist bestrebt, mit einer entsprechend ausgerichteten Reformpolitik, z. B. bei Steuern und Altersvorsorge, auch innenpolitisch positive Bedingungen für die Globalisierung herzustellen.

Auch in der Außenpolitik gewinnen mit der Globalisierung wirtschaftliche Interessen immer größere Bedeutung. Die neue Rolle Deutschlands in der Welt resultiert allerdings vor allem aus dem Ende der Teilung Europas und der deutschen Teilung. Erst mit dem Zwei-plus-vier- Vertrag vom 12. September 1990 war Deutschland auch formell ein souveräner und gleichberechtigter Partner der internationalen Staatenwelt geworden. Heute sieht es sich von ihr sehr viel stärker gefordert als früher, z. B. bei militärischen Einsätzen der NATO oder bei Friedensorganisationen der UN, als weltweit aktiver Verfechter der Menschenund Minderheitenrechte, als Helfer bei der Bekämpfung der Armut und eines ungehemmten Bevölkerungswachstums in der Welt, als zuverlässiger Förderer einer global wirksamen Umweltpolitik (Protokoll von Kyoto), um die natürlichen Ressourcen der Menschheit zu schützen, oder als Gesprächspartner in Nahost. Die Einbettung der Interessen Deutschlands als des nach Russland bevölkerungsreichsten europäischen Staates in den Rahmen der EU hat sich dabei als außenpolitische Konstante der Regierungen Kohl, Schröder und Merkel erwiesen [33, c. 476–477].

Text 20.

Sprache des Nationalsozialismus

Als Sprache des Nationalsozialismus bezeichnet man ein Vokabular und eine bestimmte öffentliche Rhetorik, die in der Zeit des Nationalsozialismus häufig verwendet wurden und den Sprachgebrauch in Staat und Gesellschaft stark beeinflussten. Sie enthält sowohl Neuschöpfungen von Wörtern als auch veränderte Bedeutungszuschreibungen für bereits vorhandene Wörter. Beide wurden zum Teil willkürlich geschaffen, zum Teil aber auch unreflektiert eingebürgert.

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Adolf Hitler und Joseph Goebbels gelten als typische Vertreter dieser Sprache. Sie wirkten großenteils über ihre Sprechattacken als Demagogen und verwendeten die Massenmedien systematisch für ihre NS-Propaganda, so dass sich ihr Sprechstil und Vokabular weit verbreiteten und in vielen öffentlichen Bereichen durchsetzten.

Die Sprache im Nationalsozialismus enthielt häufig Superlative und hob die „Größe“ einzelner Personen und/oder ihrer Leistungen mit Worten wie „einmalig“, „einzig“, „gigantisch“, „historisch“, „total“, „ungeheuer“ usw. hervor. Hitler wurde etwa als „Größter Feldherr aller Zeiten“ bezeichnet.

Ausdrücke aus wissenschaftlicher Fachsprache wurden zum Teil in andere Bereiche übertragen und erhielten so eine andere Bedeutung. Sie sollten Aussagen wissenschaftlich begründet erscheinen lassen.

Wertfreie technische und sachliche Ausdrücke dienten oft als Euphemismus, um Mordpläne und grausame Taten zu verdecken und zu verharmlosen: z. B. „Endlösung der Judenfrage“ statt „Ermordung aller Juden Europas“.

Die Nationalsozialistische Propaganda übernahm viele Begriffe, Redewendungen und ihren Sprachduktus aus dem Bereich der Religion, besonders der kirchlichen Sakralsprache: z. B. Worte wie „ewig“, „Glaubensbekenntnis“, „Heil“. Sie forderte damit Glauben statt Wissen ein.

Politische Gegner oder Minderheiten wurden von den Nationalsozialisten im Anschluss an die jahrhundertealte Tradition des Antijudaismus und Antisemitismus oft mit Tiermetaphern beschrieben. Der Rassismus benutzte etwa Vergleiche aus der Schädlingsbekämpfung. So schrieb Hitler in Mein Kampf: Der Jude ist und bleibt der typische Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt.

Das neu geschaffene Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) übernahm schon ab März 1933 in ganz Deutschland die inhaltliche Lenkung der Presse, der Literatur, der bildenden Kunst, des Films, des Theaters und der Musik. Es übte mittels der Reichskulturkammer die Kontrolle über fast alle Bereiche der Kultur und Medien aus. Die Reichspressekammer war eine seiner Unterorganisationen. Außerhalb der parteieigenen Medien konnte damit auch der Staatsapparat zur Verbreitung der NS-Ideologie genutzt werden, indem Zensur oder Fördermittel des Ministeriums die NS-parteikonforme Behandlung von Sport-, Kulturund zwischenmenschlichen Themen in

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Spielfilmen erreichen konnte. Die Reichsfilmkammer setzte ihre Personalpolitik durch bis hinein in einzelne Filmproduktionen.

Für die staatliche Sprachzensur und Sprachmanipulation schuf das NS-Regime selbst den Begriff Sprachregelung. Nach internen Anweisungen von Joseph Goebbels wurden etwa die Presseerklärungen solchen Zensurmaßnahmen unterworfen. Besonders für die Durchführung der Judenverfolgung und des Holocaust wurden Begriffe verordnet, die den tatsächlichen Zweck der Staatsmaßnahmen für die deutsche und ausländische Öffentlichkeit verschleiern sollten. Oft wurden bewusst verharmlosende, neutrale oder positiv besetzte Ausdrücke für Terrorund Mordaktionen verwendet. Dies war Teil der Geheimhaltung besonders der Judendeportationen und Judenvernichtung, um diese als Normalität erscheinen zu lassen und organisierten Widerstand Betroffener dagegen zu verhindern [25].

Text 21.

Die Frau und der Sozialismus

(August Bebel) |

„Ehe und Familie sind die Grundlagen des Staates; wer daher Ehe und Familie angreift, greift die Gesellschaft und den Staat an und untergräbt beide“, rufen die Verteidiger der heutigen Ordnung. Die monogamische Ehe ist, wie zur Genüge bewiesen wurde, Ausfluss der bürgerlichen Erwerbsund Eigentumsordnung, sie bildet also unbestreitbar eine der wichtigsten Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, ob sie aber den natürlichen Bedürfnissen und einer gesunden Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entspricht, ist eine andere Frage. Wir werden zeigen, dass diese auf den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen beruhende Ehe mehr oder weniger Zwangsehe ist, die viele Übelstände aufweist und vielfach ihren Zweck nur unvollkommen oder gar nicht erreicht. Wir werden ferner zeigen, dass sie eine soziale Einrichtung ist, die für Millionen unerreichbar bleibt und keineswegs jene auf freier Liebeswahl beruhende Ehe ist, die, wie ihre Lobredner behaupten, allein dem Naturzweck entspricht.

Mit Bezug auf die heutige Ehe ruft John Stuart Mill: „Die Ehe ist die einzige wirkliche Leibeigenschaft, welche das Gesetz kennt.“ Nach der Auffassung Kants bilden Mann und Frau erst den ganzen Menschen. Auf der normalen Verbindung der Geschlechter beruht die gesunde Entwicklung des Menschengeschlechtes. Die Befriedigung des Geschlechtstriebs ist eine Notwendigkeit für die gesunde

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physische und geistige Entwicklung des Mannes wie der Frau. Aber der Mensch ist kein Tier, und so genügt ihm für die höhere Befriedigung seines ungestümsten Triebes bloß physische Stillung nicht, er verlangt auch geistige Anziehungskraft und Übereinstimmung mit dem Wesen, mit dem er eine Verbindung eingeht. Sind diese nicht vorhanden, so vollzieht sich die geschlechtliche Vermischung rein mechanisch, und sie ist alsdann eine unsittliche. Der höher stehende Mensch verlangt, dass die beiderseitige Anziehungskraft auch über die Vollziehung des Geschlechtsaktes hinaus dauere und seine veredelnde Wirkung auf das aus der beiderseitigen Verbindung entsprießende Lebewesen ausdehne.

Die Freude an der Nachkommenschaft und die Verpflichtung gegen diese machen das Liebesverhältnis zweier Menschen zu einem länger dauernden. Ein Paar, das in ein Eheverhältnis treten will, soll sich also darüber klar sein, ob sich die beiderseitigen Eigenschaften zu einer solchen Verbindung eignen. Die Antwort müsste aber auch unbeeinflusst erfolgen können. Das kann aber nur geschehen durch die Fernhaltung jedes anderen Interesses, das mit dem eigentlichen Zwecke der Verbindung, Befriedigung des Naturtriebs und Fortpflanzung des eigenen Wesens in der Fortpflanzung der Rasse, nichts zu tun hat, und durch ein Maß von Einsicht, das die blinde Leidenschaft zügelt. Da jedoch diese Bedingungen in der gegenwärtigen Gesellschaft in ungemein zahlreichen Fällen nicht vorhanden sind, so ergibt sich, dass die heutige Ehe vielfach entfernt ist, ihren wahren Zweck zu erfüllen, und dass es daher nicht gerechtfertigt ist, sie als eine ideale Institution anzusehen.

Wie viele Ehen von ganz anderen Anschauungen aus als den dargelegten geschlossen werden, lässt sich nicht beweisen. Die Beteiligten sind interessiert, ihre Ehe vor der Welt anders erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit ist. Es besteht hier ein Zustand der Heuchelei, wie ihn keine frühere Gesellschaftsperiode in ähnlichem Maße kannte. Und der Staat, der politische Repräsentant dieser Gesellschaft, hat kein Interesse, Untersuchungen anzustellen, deren Resultat die Gesellschaft in ein bedenkliches Licht setzte. Die Maximen, die der Staat selbst in Bezug auf die Verehelichung seiner Beamten und Diener verfolgt, vertragen einen Maßstab nicht, wie er der Ehe zugrunde liegen soll [20, c. 134–136].

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Text 22.

Die Zukunft der Religion

(August Bebel)

Die Religion ist die transzendente Widerspiegelung des jeweiligen Gesellschaftszustandes. In dem Maße, wie die menschliche Entwicklung fortschreitet, die Gesellschaft sich transformiert, transformiert sich die Religion, sie ist, wie Marx sagt, das Streben nach illusorischem Glück des Volkes, das einem Zustand der Gesellschaft entspringt, welcher der Illusion bedarf, aber verschwindet, sobald die Erkenntnis des wirklichen Glückes und die Möglichkeit seiner Verwirklichung die Massen durchdringt. Die herrschenden Klassen streben in ihrem eigenen Interesse, diese Erkenntnis zu verhindern, und so suchen sie die Religion als Mittel für ihre Herrschaft zu konservieren, was am deutlichsten in dem bekannten Satze sich ausdrückt: "Dem Volke muss die Religion erhalten werden." Dieses Geschäft wird in einer auf Klassenherrschaft beruhenden Gesellschaft eine wichtige amtliche Funktion. Es bildet sich eine Kaste, welche diese Funktion übernimmt und ihren ganzen Scharfsinn darauf richtet, das Gebäude zu erhalten und zu erweitern, weil damit ihre eigene Macht und ihr Ansehen wachsen.

Anfangs Fetischismus auf unterster Kulturstufe, in primitiven gesellschaftlichen Verhältnissen, wird die Religion Polytheismus bei höherer Entwicklung, Monotheismus bei noch vorgeschrittener Kultur. Es sind nicht die Götter, welche die Menschen erschaffen, es sind die Menschen, die sich die Götter, Gott machen. "Sich selbst (dem Menschen) zum Bilde, zum Ebenbilde schuf er ihn" (den Gott), nicht umgekehrt. Bereits hat sich auch der Monotheismus in einen alles umfassenden, alles durchdringenden Pantheismus aufgelöst und verflüchtigt sich immer mehr. Die Naturwissenschaft machte die Lehre von der Schöpfung der Erde in sechs Tagen zur Mythe; die Astronomie, die Mathematik und Physik machen den Himmel zu einem Luftgebilde, die Sterne am Himmelszelt, auf denen die Engel thronen, zu Fixsternen und Planeten, deren Natur jedes Engelleben ausschließt.

Die herrschende Klasse, die sich in ihrer Existenz bedroht sieht, klammert sich an die Religion als die Stütze aller Autorität, wie das jede herrschende Klasse bisher so gehalten hat. Die Bourgeoisie glaubt selbst nichts, sie hat durch ihre ganze Entwicklung, durch die aus ihrem Schoße hervorgegangene moderne Wissenschaft den Glauben an die Religion und. alle Autorität zerstört. Ihr Glaube ist nur Scheinglaube, und die Kirche

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nimmt die Hilfe der falschen Freundin an, weil sie selbst der Hilfe bedarf. "Die Religion ist für das Volk nötig."

Für die neue Gesellschaft existieren keine Rücksichten. Der unausgesetzte menschliche Fortschritt und die unverfälschte Wissenschaft sind ihr Panier. Hat jemand noch religiöse Bedürfnisse, so mag er sie mit seinesgleichen befriedigen. Die Gesellschaft kümmert sich nicht darum. Auch der Priester muss arbeiten, um zu leben, und da er dabei lernt, so kommt auch für ihn die Zeit, wo er einsieht, dass das Höchste ist: ein Mensch zu sein.

Sittlichkeit und Moral bestehen auch ohne die Religion; das Gegenteil können nur Einfältige oder Heuchler behaupten wollen. Sittlichkeit und Moral sind der Ausdruck für Begriffe, welche die Beziehungen der Menschen zueinander und ihre Handlungen regeln, die Religion umfasst die Beziehungen der Menschen zu übersinnlichen Wesen. Aber wie die Religion, so entspringen auch die Begriffe über die Moral dem jeweiligen Sozialzustand der Menschen. Der Kannibale betrachtet Menschenfresserei als sehr moralisch; als moralisch sahen Griechen und Römer die Sklaverei an, der Feudalherr des Mittelalters die Leibeigenschaft und Hörigkeit; hochmoralisch erscheint dem modernen Kapitalisten das Lohnarbeitsverhältnis, die Ausbeutung der Frauen und die Demoralisation der Kinder durch gewerbliche Arbeit. Vier Gesellschaftsstufen und vier Moralbegriffe, aber in keiner herrscht der höchste Moralbegriff. Der höchste moralische Zustand ist derjenige, in dem die Menschen sich als Freie und Gleiche gegenüberstehen, in dem der Grundsatz: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu", alle menschlichen Beziehungen beherrscht. Im Mittelalter galt der Stammbaum des Menschen, in der Gegenwart entscheidet sein Besitz, in der Zukunft gilt der Mensch als Mensch. Und die Zukunft gehört dem Sozialismus [20, c. 485–487].

Text 23.

«Kalter Krieg» und Teilung Deutschlands

Bald nach der Beendigung des 2. Weltkriegs entwickelte sich der weltpolitische Gegensatz zwischen der Sowjetunion einerseits und den USA und den anderen Westmächten andererseits. Das Vorgehen der Sowjetunion in Mittel und Osteuropa, auch hinsichtlich der deutsch-polnischen Grenze, hatte das Misstrauen und den Unwillen der Westmächte geweckt. Bereits am 5. März 1946 beschwor Churchill in einer Rede in den USA das Bild vom «Eisernen Vorhang», der von Stettin bis Triest über Europa niedergegangen sei. Die Sowjetunion ihrerseits fühlte sich vom expansiv auftretenden

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Kapitalismus der USA bedroht, der das Verlangen nach freiem Welthandel und offenen Märkten mit der politischen Forderung verband, den Grundsätzen liberaler Demokratie weltweite Geltung zu verschaffen. Von daher bemühte sich die Sowjetunion, ihre im Krieg durch die Rote Armee geschaffene Einflusssphäre durch Förderung der kommunistischen Parteien und v. a. mit polizeistaatlichen Mitteln zu konsolidieren. Amerikanischsowjetische Interessenkonflikte in Iran, in Griechenland und in der Türkei 1946/47 markierten den Beginn des Kalten Krieges – ein «heißer» Krieg zwischen den beiden Weltmächten wurde von beiden sorgsam vermieden. Die nun betriebene amerikanische Politik der Eindämmung ging von der Teilung der Welt in eine amerikanische und eine sowjetische Einflusssphäre aus, beantwortete jedoch jeden sowjetischen Versuch einer Änderung des Status quo mit militärischem Gegendruck.

Auf das besiegte und besetzte Deutschland wirkte sich der Kalte Krieg besonders stark aus. Die Sowjetunion beurteilte die von der US-Regierung vorgeschlagene wirtschaftliche Vereinigung der Besatzungszonen zur Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung – ebenso wie später den Marshallplan – als gezielte Maßnahmen des „amerikanischen Wirtschaftsimperialismus“, zumal auch die von ihr immer wieder erhobene Forderung nach einer Beteiligung an der Kontrolle des Ruhrgebietes von den Briten abgelehnt wurde. Die sowjetische Deutschlandpolitik wurde von den USA entsprechend der Eindämmungsdoktrin als der Versuch angesehen, ganz Deutschland in die sowjetische Einflusssphäre einzubeziehen.

Alle Aktionen der Machtstabilisierung in der sowjetisch besetzten Zone wurden unter diesem Blickwinkel betrachtet. Dabei bleibt die Frage offen, ob nicht das deutschlandpolitische Konzept Stalins weniger auf Einbeziehung Deutschlands in den eigenen Machtbereich abzielte als vielmehr darauf, den Anschluss Deutschlands an den kapitalistischen Westen zu verhindern und ein bürgerliches, neutrales, der Sowjetunion nicht feindlich gegenüberstehendes Gesamtdeutschland zu schaffen. Die amerikanische Führung jedenfalls meinte vor der Alternative zu stehen, ganz Deutschland an die Sowjetunion zu verlieren oder die Teilung Deutschlands zu akzeptieren; sie entschied sich für die Errichtung eines westdeutschen Teilstaates. Der Versuch Stalins, dies mit der Berliner Blockade 1948/49, dem bis dahin schwersten Konflikt der Westmächte mit der UdSSR in der Nachkriegszeit, zu verhindern, schlug fehl. So führte die Politik der Siegermächte im Kalten Krieg zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1949 [33, c. 318–319].

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