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Немецкий для политологов и право

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Text 24.

Die kosten der deutschen Einheit

Welche enormen Erblasten dem vereinigten Deutschland auferlegt wurden, ist im Vereinigungsjahr 1990 zunächst nur von wenigen erkannt worden. Allerdings stellte sich sehr bald heraus, dass die Erneuerung der Wirtschaft, des Wohnungsbestandes, der Verkehrswege, Wasserstraßen und Kommunikationsverbindungen, die Sanierung der öffentlichen Einrichtungen im Gesundheitsund Sozialwesen und die Beseitigung der riesigen Umweltschutz. den eine große Belastung bedeuten würden, Diese Bürde konnte unmöglich von den deutschen Bundesbürgern allein getragen wer· den. Alle Deutschen mussten diese Erblast der Teilung zusammen übernehmen und müssen ihre Folgen gemeinsam abtragen.

Um die Finanzausstattung der neuen Bundesländer und ihrer Gemeinden sicherzustellen und ihnen so den Aufbau einer geordneten Verwaltung und eines funktionsfähigen Justizwesens zu ermöglichen, verständigten sich Bund und Länder im Mai 1990 auf einen besonderen „Fonds Deutsche Einheit“. Aus diesem Finanztopf erhielten die neuen Bundesländer von 1990 bis 1994 insgesamt 160,7 Mrd. DM.

Bereits kurz nach der Schaffung der Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion zeigte sich, dass die bis dahin aufgelegten wirtschaftlichen Förderprogramme bei weitem nicht ausreichten, um die Strukturkrise und Leistungsschwäche der ostdeutschen Wirtschaft zu überwinden. Um die verschiedenen bis dahin schon eingeleiteten Untertützungsaktionen zu bündeln, verabschiedete die Bundesregierung am 8. März 1991 das „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost“. Über dieses Gemeinschaftswerk sind in den Jahren 1991/92 insgesamt 24,4 Mrd. DM nach Ostdeutschland geflossen. Mit diesen Mitteln wurden gezielt kommunale Investitionsvorhaben unterstützt, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziert, die Modernisierung von Wirtschaftsunternehmen gefördert und der Ausbau und die Modernisierung des Verkehrsnetzes vorangetrieben. Weitere Förderschwerpunkte waren die Verbesserung der Standortbedingungen für Industrieansiedlungen und Technologieparks, um so die Investitionsbereitschaft privater Investoren zu erhöhen (Anschubinvestitionen in wirtschaftsnahe Infrastrukturvorhaben), die «Werftenhilfe Ost» und die Beseitigung von Altlasten im Umweltbereich.

Zur Teilabdeckung des gigantisch angewachsenen Finanzbedarfs des Bundes wurde am 1. Juli 1991 ein Solidaritätszuschlag in Form eines Zuschlags von 7,5 % auf die Einkommenund Körperschaftsteuer eingeführt, der seit 1. Januar 1995 erneut, jetzt unbefristet erhoben wird. In

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regelmäßigen Abständen soll jedoch die Notwendigkeit der weiteren Erhebung geprüft werden.

Mit dem «Solidarpakt der Vernunft zur Finanzierung der deutschen Einheit» vom 13. März 1993 stellten dann Bundesregierung und Länderregierungen den Finanzausgleich innerhalb der Föderation auf eine neue Grundlage. Eine hohe Priorität erhielten alle Fördermaßnahmen zur raschen Wiedergründung eines leistungsfähigen, innovativen Mittelstandes. Eine moralische Verpflichtung besteht auch gegenüber den Bürgern, die durch politische Repressalien und durch folterähnliche Haftbedingungen in den Gefängnissen des SED-Staates Gesundheitsschäden erlitten haben. Hierfür wurde ein «Entschädigungsfonds» geschaffen, der aus verschiedenen Quellen gespeist wird.

Insgesamt gesehen sind zur Sicherung der finanziellen Basis der neuen Länder und Kommunen und ihres wirtschaftlichen und ökologischen Aufbaus seit 1991 gigantische Summen nach Ostdeutschland geflossen.

Trotz dieses Transfers von Milliardensummen sind die neuen Bundesländer noch weit davon entfernt, sich zu blühenden Landschaften zu entwickeln. Diese Erwartungshaltung hatte die Bundesregierung aber in Analogie zum Wirtschaftswunder nach 1949 geweckt. Die neuen Bundesbürger konsumieren jedoch immer noch mehr, als sie produzieren. Die Wachstumsraten sinken seit 1994, und es besteht die Gefahr eines vorläufigen Endes des Aufholprozesses. Damit ist eine Beendigung hoher und höherer Transferleistungen nicht abzusehen [33, c. 458–460].

Text 25.

Die «Agenda 2010» und der Sozialstaat

Mit der «Agenda 2010» legte Bundeskanzler Schröder am 14. März 2003 in einer Regierungserklärung ein Reformprogramm vor, das bis zum Jahr 2010 die Bundesrepublik «fit für die Zukunft» machen sollte. Betroffen waren fünf Bereiche: 1. Arbeitsmarkt/Arbeitsrecht, 2. Soziale Sicherungssysteme, 3. Wirtschaft, 4. Finanzen, 5. Bildung, Ausbildung und Innovation. Geplant waren die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Begrenzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld auf 12 Monate – für Arbeitslose über 55 Jahre auf 18 Monate –, die Verschmelzung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe (Hartz-IV-Reform). Der Eigenanteil aller in gesetzlichen Krankenkassen Versicherten sollte erhöht und Leistungen wie Sterbeund Krankengeld sowie die Kosten für Schwangerschaftsabbrüche sollten aus der paritätischen Finanzierung gestrichen werden. Den Kündigungsschutz und die

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Handwerksordnung wollte Schröder mit dem Ziel flexibilisieren, Neueinstellungen von Arbeitnehmern zu erleichtern.

Schröders Programm löste zunächst einen Proteststurm in der eigenen Partei und bei den Gewerkschaften aus. Auf vier großen Regionalkonferenzen der SPD warb Schröder für sein Reformprogramm und die damit verbundenen Einschnitte in das Sozialsystem. Seit 1950 waren die Beiträge zu den Sozialversicherungen von 20 % auf 42 % des versicherungspflichtigen Einkommens gestiegen – der Sozialstaat drohte unbezahlbar zu werden. Die hohe Arbeitslosigkeit hatte das Problem verschärft, da die Beiträge zu den Sozialversicherungen ausschließlich von den beschäftigten Arbeitnehmern und deren Arbeitgebern aufgebracht werden. Die Diskussion über die Agenda 2010 in der SPD

war intensiv und zur Überraschung vieler Beobachter fand die Politik Schröders auf einem Sonderparteitag am 1. Juni 2003 die breite Zustimmung der Delegierten. Auch der Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen unterstützte die Agenda 2010.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände übte, trotz einer insgesamt vorsichtig positiven Haltung, in Einzelpunkten harte Kritik, vor allem an der angedrohten Ausbildungsplatzabgabe. Die Union unter Führung von Angela Merkel sagte der Bundesregierung bei den Vorhaben, die sie selbst für vernünftig hielt, Unterstützung zu – auch im Bundesrat mit seiner Unionsmehrheit. Das entsprechende Gesetzespaket wurde am 15. Dezember 2003 im Kompromiss zwischen der Regierungsmehrheit und dem CDUgeführten Bundesrat im Vermittlungsausschuss verabschiedet. Besonders die Hartz-IV-Reform weckte den Zorn Betroffener und potenziell Betroffener. Wenige Monate vor dem Inkrafttreten der Reform am 1. Januar 2005 kam es zu wochenlangen Protestdemonstrationen – im Osten v. a. von der PDS getragen, in den westlichen Bundesländern bildete sich aus enttäuschten SPDund Gewerkschaftsmitgliedern die Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG).

Auch das «Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung», das am 1. Januar 2004 in Kraft trat, beruhte auf einem Kompromiss zwischen der rot-grünen Koalition und der Union, jedoch ohne Beteiligung der FDP. Hauptziel war die Senkung der Krankenkassenbeiträge, die als Lohnnebenkosten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermaßen getragen werden. Unter anderem wurde den Patienten eine Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal auferlegt und ihre Zuzahlungen zu medizinischen Leistungen wurden erhöht. Der Zahnersatz und das Krankengeld wurden aus der paritätischen Finanzierung herausgenommen [33, c. 482–483].

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Text 26.

Helmut Kohl

Geboren am 3. April 1930 in Ludwigshafen am Rhein, als Sohn eines Zollbeamten, studierte Kohl nach dem Abitur (1950) in Frankfurt und Heidelberg Geschichte und Staatswissenschaften und war nach seiner Promotion in der Industrie tätig. Er war 1946 Mitbegründer der Jungen Union in Ludwigshafen, schloss sich 1947 der CDU an und übernahm in der Folgezeit verschiedene Ämter in der Jungen Union und in der CDU. 1959 in den Landtag von Rheinland - Pfalz gewählt, wurde Kohl 1963 Fraktionsvorsitzender der CDU. Seit 1966 auch Landesvorsitzender der CDU (bis 1973), setzte er 1969 die Ablösung des bisherigen Regierungschefs Peter Altrneier durch und wurde selbst Ministerpräsident von Rheinland - Pfalz.

Dem Bundesvorstand der CDU gehörte Kohl seit 1964 an, dem Parteipräsidium seit 1969. Nachdem er bereits 1971 erfolglos gegen Rainer Barzel für das Amt des CDU -Vorsitzenden kandidiert hatte, wurde er nach dem Rücktritt Barzels von diesem Amt im Juni 1973 zum Vorsitzenden der CDU gewählt. Zusammen mit den Generalsekretären Biedenkopf (bis 1977) und Geißler (bis 1989) hat Kohl energisch die organisatorische Stärkung der CDU und ihre Entwicklung zu einer modernen, mitgliederstarken Volkspartei betrieben. Für den Bundestagswahlkampf 1976 wurde Kohl von CDU und CSU als Kanzlerkandidat aufgestellt. Die Union erreichte zwar mit 48,6 % der Stimmen das zweitbeste Wahlergebnis ihrer Geschichte, doch blieb die Mehrheit der sozialliberalen Koalition erhalten. Kohl gab das Amt des Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz auf und ging als Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion nach Bonn. Für den Bundestagswahlkampf 1980 verzichtete Kohl auf die Kanzlerkandidatur, blieb aber nach der Wahl Oppositionsführer im Bundestag.

Im Gegensatz zu Franz Josef Strauß hatte Kohl seit langem die Strategie verfolgt, die FDP aus dem Bündnis mit der SPD herauszulösen und für eine Koalition mit der Union zu gewinnen. Nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition ermöglichte der Koalitionswechsel der FDP die Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler am 1. Oktober 1982. Bei den vorgezogenen Bundestagswahlen 1983 bestätigten die Wähler ebenso wie 1987, bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 und erneut im «Superwahljahr» 1994 Kohls Koalitionsregierung. Kohl, der sich große Verdienste um die deutsche Vereinigung erworben hat («Kanzler der Einheit»), trat auch bei der Bundestagswahl 1998 als Spitzenkandidat an.

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Nach der Wahlniederlage der Union gab er den Vorsitz der CDU auf. Wegen seines Verhaltens in der Spendenaffäre der CDU – entgegen der Vorschrift des Grundgesetzes weigerte er sich, die Namen von Spendern zu nennen – erfuhr er auch in der eigenen Partei heftige Kritik.

Heute engagiert sich Helmut Kohl für die Aufarbeitung der SEDDiktatur. 1996 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Bürgerbüros Berlin, eines Vereins zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SEDDiktatur, an dessen Gründung Bürgerrechtler wie zum Beispiel Bärbel Bohley und Jürgen Fuchs oder Persönlichkeiten wie Ignatz Bubis beteiligt waren und das er seither unterstützt. Seit 2003 ist er zudem Gründungsmitglied des Fördervereins der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen [33, c. 418–419].

Text 27.

Angela Merkel

Mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel wählte der Deutsche Bundestag am 22. November 2005 erstmals eine Frau in das Amt des Bundeskanzlers. Angela Merkel wurde am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren, noch im gleichen Jahr siedelte die Familie in die DDR um, wo ihr Vater eine Pfarrstelle erhalten hatte; ab 1957 lebte die Familie in Templin. Angela Merkel besuchte die Polytechnische Oberschule und engagierte sich als Schülerin und Studentin in der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Nach ihrem Physikstudium arbeitete sie bei der Akademie der Wissenschaften im Zentralinstitut für Physikalische Chemie. Hier promovierte sie auch 1984.

Angesichts der Entwicklung in der DDR schloss sie sich 1989 der Bürgerrechtspartei «Demokratischer Aufbruch» an und wurde 1990 stellvertretende Regierungssprecherin der ersten frei gewählten Regierung der DDR unter Ministerpräsident Lothar de Maizihe. In dieser Eigenschaft nahm sie an zahlreichen deutschdeutschen Verhandlungen teil, bei diesen Gelegenheiten wurde Bundeskanzler Helmut Kohl auf die junge Politikerin aufmerksam. Nach der deutsch-deutschen Vereinigung 1990 holte er Merkel als Bundesministerin für Familie, Frauen und Jugend in sein Kabinett, vier Jahre später wurde sie Ministerin für Umwelt und Reaktorsicherheit.

Im August 1990 trat Merkel der CDU (Ost) bei, bereits im Dezember 1991 wurde sie zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt.

Die unspektakulär und schüchtern wirkende Politikerin fand sich schnell in das Bonner Machtgefüge ein. Als nach der Bundestagswahl von

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1998 der Posten des CDU -Generalsekretärs neu besetzt werden musste, schlug Kohls Nachfolger als Parteivorsitzender, Wolfgang Schäuble, sie für dieses Amt vor. In dieser Funktion beteiligte sich Angela Merkel an der Aufarbeitung der CDU -Spendenaffäre und sorgte für die «Abnabelung» vom Parteipatriarchen Kohl. Da Schäuble selbst in die Affäre verstrickt war, musste er als Parteivorsitzender zurücktreten, seine Nachfolge trat im Jahr 2000 Angela Merkel an, die damit die erste Frau an der Spitze einer der bundesdeutschen Parteien war. Instinktsicher baute sie ihre innerparteiliche Machtposition aus und erzwang nach der Bundestagswahl 2002 für sich den Fraktionsvorsitz der CDU/CSU im Bundestag. In den Koalitionsverhandlungen mit der SPD nach der Bundestagswahl2005 setzte sie erfolgreich den Führungsanspruch ihrer Partei und ihren Anspruch auf das Kanzleramt durch. Als Kanzlerin der Großen Koalition profitiert sie auch von der Fähigkeit zu moderieren und gegensätzliche Positionen zusammenzuführen, die sie in ihren bisherigen politischen Ämtern bewiesen hat.

Merkel versuchte sich Ende 2000 mit der Formulierung einer „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“ zu profilieren. Der Titel greift den etablierten Begriff der Sozialen Marktwirtschaft auf. Unter den unscharfen Thesen, deren konkrete Umsetzung im Vagen bleibt, finden sich auch Positionen, die bereits im Schröder-Blair-Papier aus dem Jahr 1999 auftauchten. Eine CDU-Präsidiumskommission unter Merkels Vorsitz erarbeitete bis zum 27. August 2001 ein Diskussionspapier, das im Dezember 2001 auf dem Bundesparteitag der CDU in Dresden verabschiedet und somit Teil der CDU-Programmatik wurde. [33, c. 486–487].

Text 28.

Zur Bürokratiegeschichte

Bürokratie, „Herrschaft der Verwaltung“, ist die Wahrnehmung von Verwaltungstätigkeiten im Rahmen festgelegter Kompetenzen innerhalb einer festen Hierarchie. Eine Übersteigerung der Bürokratie wird als „Bürokratismus“ bezeichnet: eine bürokratisch überzogene Handlungsorientierung, welche die Vorschrift über den Menschen stellt und ihn weitgehend als Objekt behandelt. Umgangssprachlich werden Bürokratie und Bürokratismus oft synonym verwandt.

Der Begriff Bürokratie wurde von dem Franzosen Vincent de Gournay (1712 bis 1759) geprägt und bereits kurz danach ins Deutsche übernommen. Das Kunstwort ist zusammengesetzt aus „bureau“ und dem französischen Suffix „-cratie“, das aus griechischen „krateia“ („Herrschaft,

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Gewalt, Macht“) gebildet wurde. Der Ursprung des Wortes Büro (frz. „bureau“ („Schreibtisch“, „Arbeitszimmer“)) ist das spätlateinische Wort „burra“ in der Bedeutung „grober Wollstoff, zottiges Gewand“. (Dieses Wort bezog sich später auf den Stoff zum Beziehen von Schreibtischen. Danach wurde es auf den Schreibtisch selbst angewendet und letztlich auch auf den Ort übertragen, wo sich der Schreibtisch befindet.) Wörtlich bedeutet Bürokratie also „Herrschaft der Verwaltung“, wobei der Arbeitsplatz Büro als Metonymie stellvertretend für die Verwaltung steht, die dort geschieht.

Den Anfang der Reformen der staatlichen Verwaltung kann man schwer festlegen. Eine erste Reform – damals noch nicht bürokratisch genannt – fand Anfang des 19. Jahrhunderts unter Stein und Hardenberg statt. Die besondere Effizienz der daraus hervorgehenden Verwaltung führte zu einer breiten Übernahme in vielen Staaten.

Grundlegende Änderungen in der Verwaltung waren erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachten. Im Zuge einer Sozialforschung glaubte man, durch eine Vielzahl von Vorschriften das staatliche Handeln planen zu können. Es folgte in den 60er und 70er Jahren die so genannte „Planungseuphorie“. Sie führte zu einem starken Anschwellen der Verwaltung und Vorschriften. Erst in den 80er Jahren begann man gegenzusteuern, weit reichende Reformen wurden allerdings in Deutschland nicht durchgesetzt.

In England und den USA begann sich hingegen gegen Ende der 70er Jahre eine Reformbewegung zu entwickeln, die zum Teil auch als Neoliberalismus bekannt ist. Unter Margaret Thatcher und Ronald Reagan wurde das Konzept des schlanken Staates zum Teil umgesetzt. Der Staat wird hierbei in seinen Aufgaben beschränkt und viele Teile früherer staatlicher Leistungen werden privatisiert mit der Absicht, dass an Stelle des Staates der Markt die Regulierung der Gesellschaft übernimmt.

In Deutschland haben neuere Reformbewegungen in den 90ern begonnen. Neben einer Vielzahl von Privatisierungen – meist durch die Europäische Union initiiert – begann sich auf Grundlage des New Public Management das Neue Steuerungsmodell zu entwickeln. Hierin vereint sich eine Vielzahl von Reformideen wie Verwaltungen als Dienstleister zu betrachten, bürokratische Verfahren als Produkte zu betrachten, eine neue Buchführung genauso wie Privatisierung von Einrichtungen, die von privater Hand getragen werden können.

Seit Ende der 1990er Jahre wird zudem die E-Regierung immer stärker diskutiert. Mit Hilfe des Internets und elektronischer

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Datenverarbeitung soll vor allem der Aufwand durch bürokratische Regulierung für Unternehmen und Bürger reduziert werden. Parallel dazu nimmt auch Demokratie eine immer stärkere Rolle ein, um Bürger stärker an Gesetzgebungsverfahren zu beteiligen. Hier soll ein grundlegendes Problem der Gesetzgebung und damit der Bürokratie an sich gelöst werden. Durch Lobbyarbeit konnten bisher einzelne Interessengruppen Vorschriften und Gesetze durchsetzen, die für eine Mehrheit der Betroffenen nachteilig, für die kleine Gruppe der Lobbyarbeiter (z. B. die Wirtschaft, aber auch einzelne Teile der Verwaltung selber) jedoch positive Auswirkungen hatte. Der Wust an unnötigen Regelungen wird häufig hierauf zurückgeführt. Durch eine breitere Einbindung der Betroffenen erhofft man sich hier sinnvollere Regelungen [21].

Text 29.

Korruption: Spiegel der politischen Kultur

Das Wort "corruptio" war in der katholischen Kirche und vor allem in den Bekenntnisschriften der Reformation der Begriff für Erbsünde. "Meyers Neues Lexikon" prangert sie als Synonym für den allgemeinen moralischen Verfall an; bei der umlaufenden Diskussion wird sie häufig mit Schmutz, Fäulnis und Verdorbenheit der Sitten gleichgesetzt. Die kriminologische Forschung definiert Korruption als "Missbrauch eines öffentlichen Amtes, einer Funktion in der Wirtschaft oder eines politischen Mandats – zugunsten eines anderen, auf dessen Veranlassung oder aus Eigeninitiative, zur Erlangung eines Vorteils für sich oder für einen Dritten".

Korrupt sind alle, die sich auf Kosten des Gemeinwohls eigene Vorteile verschaffen; bestechlich ist auch derjenige, der beispielsweise seine akademische Karriere vorwärts bringt, indem er gegen die eigene Überzeugung die wissenschaftliche Meinung derjenigen stützt, welche die Fäden seiner Karriere in der Hand halten. Korruption führt nach Meinung des Soziologen Karl Rennstich unweigerlich "zu einer Verletzung der Norm, der Pflicht und der Wohlfahrt". Sie sei "begleitet, von Geheimnistuerei, Verrat und Betrug und hat als ein besonderes Kennzeichen die unempfindliche, abgestumpfte, zynische Missachtung und Geringschätzung der Folgen für die Gesellschaft, ja für die Öffentlichkeit allgemein".

Eine der wichtigsten Definitionen stammt von dem Amerikaner Joseph S. Nye. In einem 1978 erschienenen Aufsatz mit dem Titel "Corruption and Political Development" („Korruption und politische Entwicklung“) beschrieb er Korruption als ein "Verhalten, das von den normalen Pflichten

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einer öffentlichen Rolle aus Gründen privater Interessen (Familie, enge private Cliquenbildung) oder um eines Geldoder Statusgewinns willen abweicht oder das Regeln zugunsten der Anwendung unterschiedlicher Typen von privat verpflichtetem Einfluss bricht". Alle unterschiedlichen Erläuterungen bündeln sich in einem Punkt: Geber und Nehmer nehmen den Eintritt eines Schadens oder Nachteils für die Allgemeinheit oder für ein Unternehmen wegen des eigenen Vorteils in Kauf.

Wer langfristig Geschäfte machen will, kann sich Bestechung schon wegen der drohenden Sanktionen nicht mehr leisten. Die Regelverstöße zahlen sich auch deshalb am Ende nicht aus, weil sie das Image, die Reputation eines Unternehmens zerstören. Amerikanische Anwälte durchforsten den Konzern, der in seiner 160-jährigen Geschichte eine solche Krise noch nicht erlebt hat. Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen rund 300 Beschuldigte. Einen eigenen Straftatbestand "Korruption" gibt es allerdings nicht.

Eigenartig an der gegenwärtigen Entwicklung ist, dass die Sensibilität gegenüber vielen Erscheinungsformen des Unrechts zugenommen hat und dass gleichzeitig Gier und Egoismus mitgewachsen sind. Die Gießener Wissenschaftlerin Britta Bannenberg hat vor einigen Jahren mehr als hundert einschlägige Strafverfahren ausgewertet und dann eine Art Typologie der Korruption verfasst. Danach unterscheiden sich Geber und Nehmer in einem geringeren Maße, als es vermutet wird. "Beide Seiten" seien "ehrgeizig, berufsorientiert''' hätten "grundsätzlich legale Wertvorstellungen" und wollten dennoch illegal abkassieren. Viele hätten das Bestechungsgeld und die teuren Einladungen als Ausgleich für eine Leistung empfunden, die ihnen nicht ausreichend entgolten worden sei [19, c. 5–7].

Text 30.

Zur Korruptionsgeschichte

Allerdings ist der Korruption, wie sie in dieser Themenausgabe intensiv beschrieben wird, durch strafrechtliche Konsequenzen allein nie beizukommen gewesen. Auch drakonische Strafen haben sie nicht verhindert. künden heute aber davon, welche Spielarten einer Gesellschaft als besonders verwerflich galten.

In Ägypten zum Beispiel mussten Priester um das Jahr 1300 vor Christus die Todesstrafe gewärtigen, wenn sie sich in Ausübung ihres Richteramtes bestechen ließen. Der Rat der Stadt Basel verlangte 1372 nach Christus jedem seiner Mitglieder einen Schwur zu den Heiligen ab,

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von niemandem kompromittierende Gaben anzunehmen. Wer den Schwur brach, wurde ein Jahr aus der Stadt verbannt und lebenslang von allen Ämtern ausgeschlossen. Später wurde die Verbannungsstrafe auf fünf Jahre erhöht. Dennoch kam es immer wieder vor, dass Ratsmitglieder in Streitfällen Geschenke annahmen, von städtischen Gefangenen Geld erpressten und bei der Bestellung städtischer Ämter die Hand aufhielten. Im Mittelalter wurden der Augsburger und der Zürcher Bürgermeister wegen Korruption hingerichtet. 1513 gab es wegen der damals üblichen Durchstechereien einen Aufstand am Oberrhein. Ein Ratsherr wurde gelyncht. Etwa zur selben Zeit schrieb Erasmus von Rotterdam, den man einen Humanisten nannte und nennt: „Stiehlt einer ein Geldstück, dann hängt man ihn, wer öffentliche Gelder unterschlägt, wer durch Monopole, Wucher und tausenderlei Machenschaften und Betrügereien noch so viel zusammen stiehlt, wird unter die vornehmen Leute gerechnet“.

Immer wieder hat es das Feindbild einer totalen, absoluten Bedrohung durch Korruption gegeben und ebenso oft gab es Entwarnungen oder Re1ativierungen. Die Korruptionsmuster unserer Tage waren in der Nachkriegsrepublik schon früh angelegt. 1949 soll bei der Abstimmung, ob Bonn oder Frankfurt Regierungssitz werden sollte, kräftig geschmiert worden sein. So soll etlichen Bundestagsabgeordneten, insbesondere von der Bayernpartei, die ursprünglich für Frankfurt votieren wollten, Gelder für eine Stimmabgabe zugunsten Bonns übergeben worden sein. Der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, wollte unbedingt das nahe seinem Wohnsitz Rhöndorf gelegene Bonn zur Hauptstadt machen.

Ein Lehrstück in Sachen politischer Kultur war die Flick-Affäre, die in den 1980er Jahren die Republik erschütterte. Der gleichnamige Konzern hatte die Republik inventarisiert, um einen Steuervorteil von umgerechnet einer knappen halben Milliarde Euro zu erhalten. Es kam heraus, dass Geld eingesetzt worden war, um den wirtschaftspolitischen Kurs von Unionspolitikern und FDP zu beeinflussen, die Chancen von Linken in SPD und FDP zu neutralisieren, loyale Nachwuchspolitiker zu fördern und in innerparteiliche Flügelkämpfe zu intervenieren. Schwarze Kassen, Scheinberatungsverträge, direkte Alimentierung von Politikern sicherten kapitalkräftigen Finanziers meist sogar Steuer sparend politischen Einfluss. Gerade am Beispiel Flick fiel auf, dass es um systematische, flächendeckende Maßnahmen ging, bei denen die individuelle Korruptionsbereitschaft nur ein Randaspekt war. Politische Korruption erwies sich als Teil der gesellschaftlichen Normalverfassung.

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