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Zauberinsel der Phantasie: das Thalia Theater

Das Thalia Theater liegt in der Tat wie eine rettende Insel, oder besser: Oase, in Hamburgs ödem Geschäfts- und Büroviertel nahe dem Hauptbahnhof; weit und breit ist es das einzige Gebäude mit alter Fassade. Die Frontseite ist einem griechischen Musentempel nachempfunden, in warmem Ockergelb gehalten, anziehend und einnehmend. Doch die alte, um nicht zu sagen: alter-tümelnde Fassade ist auch nur Maske. Dahinter verbirgt sich eine hochmoderne, perfekt arbeitende und leistungsstarke Theaterfabrik, ein Kraftwerk für Schauspielkunst, wie es, die Effizienz der Arbeit betreffend, in Deutschland seinesgleichen sucht. Ein relativ kleines Ensemble von zweiund-vierzig Schauspielern und Schauspielerinnen bringt, zusammen mit dem sonstigen künstlerischen Personal, ein Programm auf die Bühne, das durchschnittlich fünfzehn Stücke pro Spielzeit umfasst, bei annähernd vierhundert Vorstellungen während einer Saison. Das führt alle, egal ob Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen oder Kollegen vom technischen Personal, an die Grenze der Belastbarkeit oder, wie der Chefdramaturg Wolfgang Wiens meint, an die Grenze zur Selbstausbeutung: eine gefährliche Gratwanderung zwischen Kreativität und Verschleiß. Es macht unter anderem den Erfolg des Intendanten Jürgen Flimm aus – er leitet seit 1985 das Thalia -, dass er auf dieser Gratwanderung bislang mit feinem Gespür für den richtigen Tritt und das passende Tempo vorangegangen ist. Was dasThalia Theater, neben seinem hohen künstlerischen Rang, auszeichnet, ist die exzellente, ja geradezu innige Beziehung zu seinem Publikum. Selbst in einer Zeit , da auch im wohlhabenden Hamburg die Staatskasse nicht mehr überquillt, ist die Stellung des Thalia unangefochten. Jürgen Flimm bringt es auf den Punkt: “Wir haben es geschafft, und das wird auch so bleiben, dass öffentlich niemals ein Zweifel am Thalia geäußert worden ist. Das ist unsere erste Maxime: keinen Anlass zu schaffen für die Frage, ob das öffentliche Geld für das Thalia Theater richtig ausgegeben wird.” Immerhin tragen die Hamburger Steuerzahler das Thalia Theater jährlich mit neunundzwanzig Millionen Mark an Subventionen.

Jürgen Flimm legte von Anbeginn seiner Arbeit Wert darauf, durch ein breit gefächertes Repertoire an Stücken ein ebenso breites Theaterpublikum zu interessieren. Dies ist ihm gelungen: Mit elftausend Abonnenten hält das Thalia die Spitze aller deutschen Stadttheater. Schon mit seiner Antrittsinszenierung im Jahre 1985, Ibsens “Peer Gynt” – eine sechsstündige Aufführung –, setzte Flimm die Maßstäbe, nach denen er sich in den folgenden Jahren richten wollte. Die Aufführung wurde zum sensationellen Kulturereignis in Hamburg, “ die Resonanz beim Publikum war überwältigend”, wie er selbst sagt. Überwältigungen gab es danach noch viele. Unter ihnen ragen vor allem die Inszenierungen des Amerikaners Robert Wilson heraus. Sein Stück “The Black Rider” wurde zum gröβten Erfolg in der Geschichte des Thalia Theaters. Es ist eine perfekte, hochprofessionelle Mischung aus Avantgarde-Theater und Rockmusik, bei der Text (von William S. Burroughs), Musik ( von Tom Waits), Choreographie, Ton, Farbe, Requisite und “Special effects” zu einer Art magischem Zauberstück komponiert werden.

Mit dieser außergewöhnlichen Inszenierung hatte sich das Thalia Theater nicht nur ein junges Publikum erobert: die Begeisterung war auch bei traditionell orientierten Theaterbesuchern groß. Fast noch wichtiger war jedoch, dass dem Thalia mit den Inszenierungen Robert Wilsons der Sprung in die internationale Theaterszene gelang. Der letzte Hauch des Provinziellen wurde buchstäblich weggezaubert. So erwarten die Hamburger Theaterenthusiasten mit Spannung das neue Stück Wilsons, dessen Premiere für Juni geplant ist: “Time Rocker”.

Es soll die großartige Leistung des Thalia-Ensembles unter Führung Jürgen Flimms nicht geschmälert werden, wenn man darauf verweist, dass es auf den Grundlagen aufbauen konnte, die Boy Gobert in den Jahren davor als Intendant geschaffen hatte. Gobert leitete das Thalia, das sich seit seiner Gründung im Jahre 1843 vor allem als Komödienhaus einen Namen machte, von 1969 bis 1980. Er gab ihm ein neues Image, verpflichtete junge Regisseure wie Hans Neuenfels oder Peter Zadek, verbesserte die finanzielle Ausstattung, warb mit seinem schauspielerischen Genie und seinem hanseatischen Charme um das Publikum, nicht zuletzt auch damit, dass er ihm schwierige Stücke zumutete. Kann man dem Publikum einen größeren Respekt entgegenbringen? Boy Gobert öffnete das Thalia für die Literatur der Moderne. Jürgen Flimm machte auf diesem Weg konsequent weiter. Er arbeitet mit ungewöhnlichen und gewagten Theatermethoden, die letztlich alle dem Zweck dienen, das Theater vom naturalistischen Zwang zu befreien. Dafür fließt ein neuer Symbolismus mit surrealistischen Ausdrucksformen ein, der freilich den Nerv der Zeit, und das heißt vor allem: den Nerv der Jugend, trifft.

In der Ära Gobert wurden am Thalia neue Strukturen geschaffen, um mit ihnen die Berührungsängste des Publikums gegenüber modernen und schwierigen Stücken abzubauen. Jürgen Flimm führt diese Tradition behutsam und beharrlich fort. Der reguläre Spielplan ist durchsetzt mit einem vielfältigen Angebot an Literarur- und Musikveranstaltungen. In der Reihe “Thalia-Intervall” wird derzeit die Arbeit des Musik-Avantgardisten John Cage und anderer zeitgenössischer Komponisten vorgestellt. Die Reihe “Freitag Nacht” bringt Lesungen mit Schauspielern des Ensembles, etwa aus Kafkas “Bericht für eine Akademie” oder aus Peter Handkes “Zettelkasten”. Lesungen haben einen festen Platz beim Thalia, sei es, dass Bruno Ganz aus Canettis Werk liest, Alice Schwarzer aus ihrem Buch über Marion Gräfin Dönhoff oder die lebende Film-Legende Anthony Quinn aus der soeben erschienenen Autobiographie.

Doch damit sind die Aktivitäten des Thalia Theaters längst nicht erschöpft; sie führen über das rein Kulturelle weit hinaus. So organisierte das Thalia zum Beispiel im Jahre 1992 unter dem Motto “We shall never forget” eine Großveranstaltung gegen Fremdenhass. In diesem Jahr wurden die “Wochen der Brüderlichkeit” mit einer Matinee eröffnet: Peter Frank spielte Szenen aus “Dreck” von Robert Scirneider. In der Reihe “Thalia-Treffpunkt” entstand in Kooperation mit der Konzentrationslager-Gedenkstätte Neuengamme ein Theaterprojekt zum Hamburger Curio-Haus-Prozess, bei dem 1946 die SS-Mörder des KZ Neuengamme verurteilt worden waren.

Theaterarbeit heißt am Thalia eben mehr als nur Stückespielen. Ein modernes Theater, das dieser Bezeichnung gerecht werden will, ist eben doch keine Insel, schon gar keine Insel der Seligen und Entrückten. Auch das Theater, als bewusstseinsbildende Institution, hat eine Verantwortung für das Gemeinwesen, meint Jürgen Flimm. Es hat sie zumindest so lange, wie es sich seinen überlieferten moralischen Anspruch, und dieser geht letztlich auf die griechische Antike zurück, bewahren möchte. Theater, wenn es lebendig bleiben will, sollte sich auch von der Bühne herabbegeben, das heißt, sich ins Zeitgeschehen, ins Politische einmischen, versöhnend und vermittelnd: das Theater als öffentlicher Ort, als Institution der Öffentlichkeit und des Öffentlichmachens. Dies führt nicht zuletzt auch Menschen dem Theater zu, und damit der Literatur, die bislang nur wenig mit der Bühnenkunst anfangen konnten. Dahinter steckt ein ehrenwertes Kalkül: möglichst viele, vor allem auch junge Zuschauer ans Theater zu binden. Das kann nur gelingen, wenn die Tradition des Theaters aufgehoben wird. Als reine Traditionspflegeanstalt wird das Theater sich langfristig nicht behaupten können gegenüber den rasanten Veränderungen in der Kulturlandschaft. “Wir erleben”, so meint Jürgen Flimm, “die Folgen der ungeheueren Expansion einer Unterhaltungsindustrie, durch die das Theater immer mehr an den Rand gedrängt worden ist. Die Anstrengungen des Theaters, dagegenzuhalten, müssen verstärkt werden. Gleichzeitig führt jetzt aber die Verknappung der Subventionsmittel dazu, dass mehr als je zuvor nach der Legitimation unserer Kunst gefragt wird. Ein wesentlicher Teil dieser Legitimation ist natürlich der Zuschauer.” Das Thalia Theater stellt sich dieser Herausforderung mit Bravour; es stellt sich dem schwierigen Theater, das das Leben ist. Es ist ein lebendiges Theater.

Deutschland

Nr. 2 April 1996

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