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Deutsche_Stilistik

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Insbesondere der Lyrik wird ein solches atemporales Präsens zugeschrieben, das in der Stilund Dichtungstheorie verschieden erklärt und bezeichnet worden ist: als »Entepisierung des Lyrischen»14, als »evozierendes und evokatives Präsens«15 oder als »szenisches Präsens«16.

E. Staiger, der den Versuch unternommen hat, die Grundformen der Poesie den Zeitbegriffen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beizuordnen17, weist gerade die Lyrik mit ihrer Präsensdominanz der Gegenwart zu, weil im lyrischen Sprechen die Erzähldistanz weitgehend überwunden und der Erlebende in die durch Sprache heraufbeschworene poetische Wirklichkeit hineingenommen wird, ihm die Bildoder Gedankenwelt als »Erinnerung« im »Innewerden« begegnet. Unzählige Gedichte könnten dafür als Beispiel dienen:

Nun ist es still um Hof und Scheuer, Und in der Mühle ruht der Stein ...

(Th. Storm, »Sommermittag«)

Sprich aus der Ferne, Heimliche Welt,

Die sich so gerne Zu mir gesellt!

(Cl. Brentano, »Sprich aus der Ferne«)

Selbst dort, wo das Gedicht über die statische Bildvergegenwärtigung hinausgeht und Vorgänge oder Prozesse verdeutlicht, kann die Präsensforrn bestehenbleiben:

Ein jäher Blitz. Der Erntewagen schwankt. Aus seinen Garben fahren Dirnen auf

Und springen schreiend m die Nacht hinab ...

(C. F. Meyer, »Erntegewitter«)

Die sprachliche »Repräsentation« vollzieht sich aber auch dort, wo Dichtung in einem Vergangenheitstempus dargeboten wird:

Es war, als hätt' der Himmel Die Erde still geküßt ...

(J. v. Eichendorff, »Mondnacht«)

Wenn in solchen Versen aufgrund des Präteritums die Aussage stärker als Erlebnis des Dichters wirkt, das dem Nacherlebenden nicht mehr unmittelbar vermittelt wird, so bleibt doch der Charakter der Vergegenwärtigung hier – wie in vielen Lyrikformen – erhalten.

Das Überspielen der Tempusgrenzen in literarischen Texten wird auch in einer anderen Darbietungsform sichtbar: im historischen Präsens. Schon die antiken Autoren nutzten es als wirksames Stilmittel, wenn es galt, ein als vergangen empfundenes Geschehen in seiner Lebendigkeit und Spannung zu vergegenwärtigen. Die Aufsatzlehre der Schule lehrt noch heute die Verwendung dieses Stilmittels im »Erlebnisaufsatz«:

Es war an einem schönen Sonntagmorgen in den Sommerferien, als der Jugendverein ... in den Wald hinauszog, um sein Sommerfest zu feiern ... Um zehn Uhr beginnt es! ... Alle paar Minuten wird ein Junge abgeschoben, Name and Zeit aufgeschrieben ...

(G. Kühn, »Stilbildung in der höheren Schule«, S. 69)

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Auch in der Geschichtsschreibung war dieses Stilmittel einst beliebt. So wechselt z.B. Schiller in seiner »Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung« wie in der »Geschichte des Dreißigjährigen Krieges« wiederholt vom Erzähltempus des Imperfekt in das des Präsens, um bestimmte Geschehnisse in ihrer Ereignishaftigkeit und Spannung hervorzuheben, aber auch, wenn er die Lebendigkeit eines Vorgangs, z.B. die Heftigkeit des Kampfes, schildern will. Der Wechsel vom Prätenturn ins Präsens kann sich hierbei sogar innerhalb eines Satzes vollziehen:

Wütend war der Andrang, der Widerstand fürchterlich; der ganzen Wut des feindlichen Geschützes ohne Brustwehr dahingegehen, grimmig durch den Anblick des unvermeidlichen Todes, laufen diese entschlossenen Krieger gegen den Hügel Sturm, der sich in einem Moment in den flammenden Hekla verwandelt und einen eisernen Hagel donnernd auf sie herunterspeit.

(Schiller, »Geschichte des Dreißigjährigen Krieges«)

Bereits in der Literatur des 19. Jhs. tritt das Stilmittel des historischen Präsens zurück.18 Gelegentlich begegnet es aber auch noch bei Autoren des 20. Jhs.:

Plötzlich hatte ich genug –

lvy malte ihre Fingernägel und summte –

Plötzlich höre ich mich am Telefon: Anfrage wegen Schiffsplatz nach Europa ...

(M. Frisch, »Homo Faber«)

Die neuere Erzählliteratur kennt daneben weitere Formen des Wechsels zwischen erzählendem Präsens und erzählendem Präteritum (Imperfekt). So ist schon verhältnismäßig früh der Versuch unternommen worden, nicht nur einzelne Begebenheiten ins (historische) Präsens zu übertragen, sondern auch ganze Abschnitte, schließlich ganze Werke in dieser Ternpusform abzufassen. Dabei handelt es sich nicht (wie W. Schneider meint19) meistens um »Romane auf tiefer schriftstellerischer Ebene«; Romane der Gegenwart zeigen vielmehr, daß diese alternative Tempusverwendung in der experimentierenden neueren Erzählprosa besonders geschätzt wird, während die gelegentliehe Verwendung des historischen Präsens nur in der Unterhaltungsund Trivialliteratur zuzunehmen scheint. W. Schneider führt nur Wilhelm Schäfers Pestalozzi-Roman »Lebenstag eines Menschenfreundes« (1915) und Franz Werfels «Lied von Bernadette« als Beispiele im Präsens erzählter Romane auf. Hinzuzufügen wären zumindest Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz« (1929), wo das erzählende Präteritum nur noch vereinzelt auftritt, und neuerdings Günter Grass’ Roman »Hundejahre«, wo Präteritum und Präsens ständig wechseln und teilweise verschiedene Erzählebenen spiegeln, sowie Peter Handkes Roman »Der Hausierer«, in dem der Autor das Präteritum zu meiden sucht und statt dessen im Präsens, Perfekt und gelegentlich im Plusquamperfekt schreibt, oder Johannes Bobrowskis Roman »Levins Mühle«, der fast nur im Präsens erzählt ist.

Im oberdeutschen Sprachgebiet ist die Präsensform häufig dominierende Tempusform für das mündliche Erzählen. Darüber wird im Zusammenhang des Perfekts mehr gesagt.

Diese verschiedenen Formen der Präsensverwendung als Erzähltempus sprechen gegen eine Auffassung des Präsens als ausschließliches Beschreibungs-

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tempus, wie dies H. Weinrich betont20, wenn auch eine solche Tendenz nicht verkannt werden soll.

In und außerhalb der Dichtung dient das Präsens nicht nur der Darbietung von als gegenwärtig wie als vergangen empfundenen Einzelheiten, sondern kann auch den Zukunftscharakter bestimmter Äußerungen verdeutlichen, sei es als Ankündigung, Anordnung, Voraussage oder Vorausschau. Die Bedeutung des Künftigen kann mit Hilfe der Präsensform auf zweierlei Weise ausgedrückt werden:

1.mit Hilfe einfacher Präsensformen des bloßen Verbs, deren Futurbedeutung sich aus der Situation ergibt und bei einigen Verben (mit perfektivem Aspekt) auch von vornherein gegeben zu sein scheint;

2.mit Hilfe bestimmter Zeitadverbien des Künftigen in Verbindung mit einfachen Präsensformen.

Für den Ausdruck des momentanen Geschehens besitzt die deutsche Sprache außer den genannten Formen keine besondere verbale Formenklasse, wie z.B. die sogenannte Dauerform (progressive Form) im Englischen. In der Umgangssprache ist jedoch eine gewisse Ersatzform dafür üblich geworden, die durch »beim« (rheinisch: »am«), gelegentlich auch »im« + substantivierter Infinitiv + finite Verbform von »sein« gebildet wird:

Er ist beim Schreiben (am Schreiben) eines Briefes. – Er schreibt gerade einen Brief.

Er liegt im Sterben. – Er stirbt jetzt.

Man wird derartige Formen in der Umgangssprache als Varianten zum präsentischcn Ausdruck mit Hilfe von einfachen Verben oder verbalen Formen mit temporalen Adverbien ansehen müssen. Als adverbiale Kennzeichnung eines Geschehens, das durch ein anderes finites Verb ausgedrückt wird, sind präpositional eingeleitete Infinitivsubstantivierungen auch in der Hochsprache üblich (z.B. Das Kind verunglückte beim Schwimmen. – Beim Husten habe ich Schmerzen.).

Das Präsens erweist sich so als Tempus mit dem größten Vcrwendungsspielraum. Das ist auch für die Stilistik von Belang, bieten sich doch hier recht unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten zur wirkungsvollen Darstellung von Sachverhalten der verschiedensten Art.

Perfekt

Mit der Präsensform wechselt nach den Regeln der Zeitenfolge die Perfektform, die deshalb gelegentlich als »vollendete Gegenwart« bezeichnet wurde. Die Perfektform wird dazu verwandt, einen Vollzug oder eine Vollendung in der Gegenwart des Sprechers zu konstatieren:

Der Händler lebt nicht mehr. Er ist gestorben. Er maß den Gedanken so oft wiederholen, bis er ihn abgetötet hat. (P. Handke, »Der Hausierer«)

Ebenso kann das Perfekt eine Feststellung oder ein Urteil enthalten:

Er ist es gewesen. Er hat es getan. Das Gericht hat zu Recht erkannt: Der Angeklagte ist schuldig.

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Von anderen Vergangenheitstempora unterscheidet sich die Perfektform stilistisch dadurch, daß sie kein durchgehendes Erzähltempus schriftlicher Texte ist (wie das Präteritum-Imperfekt bzw. seine Ergänzungsform: das Plusquamperfekt), sondern nur gelegentlich als subjektive Feststellung des Erzählers oder als resultative Bemerkung in erzählenden Texten begegnet, in einigen auch völlig fehlt. Ein wirkungsvolles Beispiel für den Kontrast zwischen erzählendem Präteritum und besprechendem Perfekt und zugleich für die stilistischen Möglichkeiten der Zeitenfolge und -opposition findet sich schon in der Rahmung von Goethes »Die Leiden des jungen Werthers« (1774), wo am Eingang und am Schluß der fiktive Herausgeber der Briefe Werthers zu Wort kommt und das resultative wie konstatierende Perfekt bevorzugt:

Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt, und leg es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir’s danken werdet ...

Der Alte folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht’ es nicht. – Man fürchtete für Lottes Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet. (Goethe, »Werther«)

Ein weiteres Beispiel erzählerischer Rahmung fährt H. Weinrich an51: die Verteidigungsrede Josef K.’s in Franz Kafkas Roman «Der Prozeß«. Auch hier stehen die resultativen Angaben im Perfekt, der Vorgang dagegen im Präteritum:

»Hören Sie: Ich bin vor etwa zehn Tagen verhaftet worden, über die Tatsache der Verhaftung selbst lache ich, aber das gehört jetzt nicht hierher. Ich wurde früh im Bett überfallen ... «

»Ich wiederhole, mir hat das ganze nur Unannehmlichkeiten und vorübergehenden Ärger bereitet, hätte es aber nicht auch schlimmere Folgen haben können?« (F. Kafka, »Der Prozeß«)

Weinrich verweist noch auf einen anderen Bereich des stilistischen Zusammenspiels zwischen Perfekt und Präteritum22: den der Geschichtsschreibung. Da es Aufgabe des Geschichtsschreibers ist, das Vergangene zu »erzählen« und zugleich zu kommentieren, wechseln in historischen Darstellungen die Tempora des Erzählens (Präteritum, Plusquamperfekt) mit denen des »Besprechens«, Konstatierens (nach Weinrich: Präsens, Perfekt), die einzelne Geschehnisse aus dem Kontlnuum des Ablaufs der Zeit herausheben und »besprechen«:

Nach dem Umsturz von 1933 hat General von Blomberg sich gerühmt, das sei es nun, worauf die Reichswehr immer hinausgewollt und, in aller Verschwiegenheit, planmäßig hingearbeitet habe. Man hat es ihm damals wohl geglaubt, auch außerhalb Deutschlands. Es war aber hauptsächlich Prahlerei. Der Minister machte die Reichswehr viel böser, viel konsequenter und voraussehender, als sie gewesen war ... (G. Mann, »Slaat und Heer«, 1956)

Das Perfekt wirkt hier konstatierender als das gleichfalls berichtende und kommentierende Imperfekt. Die temporalen Oppositionen von Perfekt und Imperfekt prägen auf diese Weise den Stil mancher historischen oder erzählerischen Darstellung.

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Eine ständige Verwendung des Perfekts als Vergangenheitstempus würde stilistisch unschön wirken. Da die Perfektformen analytisch aus den finiten Verbformen von »haben« bzw. »sein« und dem Partizip II (rnit ge- oder anderen Präfixen und der Endung -en oder -t) oder seinen Ersatzforrnen (Infinitiv bei Modalverben) gebildet werden (z.B. ich habe es gesehen, habe es sehen können, habe es gelernt), bedingte die Abfassung eines Textes im Perfekt ständige Wiederholungen der finiten Hilfsverbformen. Man sucht dies durch Beschränkung auf eine einmalige Nennung des Hilfsverbs bei mehreren Partizipien zu vermeiden. Außerdem entständen auf diese Weise Satzklammern, die zuweilen die Gewichtigkeit des Geschehens unterstreichen, zugleich aber die Aussagen verzögern. Im Wechsel mit anderen Tempusformen (Präsens, Präteritum, Futur) wirken dagegen Perfektsätze, soweit der Redezusammenhang sie erlaubt, als auflockernde Einschnitte des Textes.

Häufungen von Perfektsätzen finden sich allerdings in Texten des mündlichen Sprachgebrauchs im Oberdeutschen (Süddeutschen, Schweizerdeutschen, Österreichischen) oder seiner literarischen Spiegelung, weil in den oberdeutschen Mundarten und Umgangssprachen das Perfekt als Vergangenheitsform dominiert oder so gar ausschließlich gilt.23 Die Opposition von erzählerischem Präteritum (Imperfekt) und erzählerischem Perfekt kann hier als stilistisches Mittel wirkungsvoll genutzt werden.

Mitunter gerät das oberdeutsche Perfekt in die erzählerische Handlungsdarstellung an Stellen, wo wir nach dem üblichen Schriftdeutsch das Imperfekt erwarten:

Unmittelbar am jenseitigen Rand des Friedhofs ist eine große Wirtschaft gestanden, mit eindrucksvollen und bedeutsamen Geräuschen. Wir haben schlitterndes Rollen auf holprigem Steinpflaster gehört und haben gewußt, jetzt wird ein frisches Faß angesteckt, haben auf den dampfen Krach gewartet, mit dem der Bierbanzen auf den Schrägen gesetzt wird, und auf die klingenden Schläge, die den Zapfen ins Fuß treiben. (W. Dieß, »Heimweh«)24

Das für erzählende Passagen ungewöhnliche Tempus verstärkt hier das Lokalkolorit des Textes, das bereits durch die Schilderung und die regional gebundenen Wörter (Bierbanzen, Schrägen) erreicht wird. Die Fremdheit des Oberdeutschen gegenüber dem Präteritum (Imperfekt), das hier oft erst als Tempus des schriftlichen Erzählens neu gelernt werden muß, führt manchmal zu ungewöhnlichem Gebrauch an Stellen, an denen man eine Perfektform erwartet. So taucht z.B. in Ferdinand Raimunds »Alpenkönig und Menschenfeind« (wie in seinen anderen Dramen) das Präteritum fast nur in den Liedern auf oder an Stellen, an denen sich die Personen urn eine gehobene Redeweise bemühen:

Astragalus: Und warum hassest du die Welt?

Rappelkopf: Weil ich hab blinde Mäusl gespielt mit ihr, die Treue hab erhaschen wollen und den Betrag erwischt, der mir die Binde von den Augen nahm. (F. Raimund, »Alpenkönig und Menschenfeind«)

Der Gebrauch des Präteritums ist hier zugleich Ausdruck der Nachzeitigkeit. Das Oberdeutsche kennt außerdem Abweichungen vom hochdeutschen Sprachgebrauch in der Verwendung von »haben« und »sein« bei der Perfekt-

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bildung. Während in der hochdeutschen Schriftsprache nur diejenigen intransitiven Verben, die eine Zustandsoder Ortsveränderung oder einen neuen erreichten Stand kennzeichnen, ihr Perfekt mit »sein« bilden, alle übrigen aber »haben« verwenden, wird »sein« im Oberdeutschen auch mit «sitzen«, »liegen«, «stehen« verbunden.

Hochdeutsch: Ich habe dort gestanden. – obd. Ich bin dort gestanden. Ich habe dort gesessen. – Ich bin dort gesessen.

In der volkstümlichen Ausdrucksweise kann das Perfekt auch als Modus der fragenden Vermutung benutzt werden:

Ihr habt das doch nicht etwa vergessen? Das hast du sicher schon gehört?

Außerdem erscheinen Perfektformen häufig anstelle des wenig gebräuchlichen Futur II:

Morgen habe ich es geschafft! Wage, und du hast gewonnen!25

Auch atemporale Verwendungsweisen zum Ausdruck der bloßen Möglichkeit oder der Gesetzmäßigkeit mit Hilfe des Perfekts sind nicht selten:

Ein Unglück ist schnell geschehen.

Das Perfekt umfaßt damit einen größeren Geltungsbereich, als oft angenommen wird (wenn er auch nicht dem des Präsens entspricht).

Präteritum (Imperfekt)

Das Präteritum oder Imperfekt ist die wichtigste Form zum Ausdruck eines als zurückliegend betrachteten Geschehens oder Zustandes, die nur noch als Erinnerung bewußt sind oder durch eine literarische Darstellung bewußt gemacht werden sollen.26 Das Geschehen wird durch das Präteritum in eine größere Distanz zum Präsens des Erlebens gerückt, als dies durch das Perfekt möglich wäre, obwohl es auch als Opposition zu beiden Tempora im mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch begegnen kann. Das Präteritum ist die älteste Form der deutschen Vergangenheitstempora. Darauf weist schon die synthetische Bildungsweise hin. Erst im Laufe des Spätmittelalters setzten sich die übrigen (zusammengesetzten) Vergangenheitstempora durch und übernahmen Aufgaben, die ursprünglich allein vom Präteritum erfüllt worden waren.

Die synthetische Bildungsweise des Präteritums bietet stilistisch manche Vorteile gegenüber den »zusammengesetzten« Tempora: die präteritalen Formen wirken kürzer und verlangen keine Satzklammern, zumindest nicht durch die bei anderen Tempora übliche Trennung von finiten und infiniten Verbteilen. Das Präteritum wird daher mitunter auch dort gewählt, wo es sich um einzelne resultative Aussagen handelt, die eine Verwendung des Perfekts angebracht erscheinen ließen, z.B. bei Kennzeichnung von Dienstleistungen, Herstellernamen u.ä.:

Die Titelseite gestaltete Max M. – Sie hörten Nachrichten.

Man hat derartige Präteritumsformen, soweit sie dem Bestreben nach Nachahmung dichterischer Ausdrucksweisen entstammen, etwas spöttisch als »Ästhetenpräteritum« bezeichnet.27 Allerdings trifft diese Charakterisierung nur zu, wenn das Präteritum befremdend wirkt, etwa im mündlichen Sprach-

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gebrauch (vgl. ich tat es – ich habe es getan), jedoch nicht, wo es um kurze schriftliche Kennzeichnungen eines Vorgangs geht. Von solchen Einzelverwendungen abgesehen, erweist sich das Präteritum vor allem als Tempus der erzählerischen Kontinuität, des erzählerischen Zusammenhangs. Selbst dort, wo dieser fehlt, kann das Präteritum (in Verbindung mit der inhaltlichen Aussage des Verbs) einen solchen suggerieren:

Sie gingen nach Hause. – Sie sahen den Film. – Ich hörte den Schuß.

Bestimmend dafür ist die allgemeine Leistung des Präteritums, das den Eindruck eines ablaufenden Geschehens vermittelt, selbst dann, wenn es sich nur um momentane Vorgänge oder resultative Mitteilungen handelt28:

Das Glas zerbrach. Die Glocke schlug eins. Er erkannte die Zusammenhänge.

Soll das Momentane oder Abgeschlossene des Vorgangs bei gleichzeitiger Wahrung des Erzähltempus betont werden, so verwendet man entsprechende Zeitadverbien, die den perfektiven Aspekt vermitteln:

Plötzlich zerbrach das Glas. In diesem Augenblick erkannte er die Zusammenhänge.

Die Verwendung des Perfekts zerstörte hier nicht mir die erzählerische Kohärenz, sondern würde auch die Erzählperspektive verändern, indem sie das Geschehen stärker an die Sicht und Gegenwart des konstatierenden Berichterstatters bände:

In diesem Augenblick hat er die Zusammenhänge erkannt.

Das Abrücken des Geschehens vom Standpunkt des Sprechers, das durch das Präteritum bewirkt wird, macht es für die Darstellung fiktiver Geschehnisse, wie sie in der erzählenden Literatur geboten werden, besonders geeignet. Der Verlauf einer Erzählung kann so eine eigene Zeitabstufung gewinnen, die nicht mehr von der zeitlichen Fixierung des Geschehens im Hinblick auf den Erzähler abhängig ist, sondern sich nach textimmanenten Angaben aufbaut:

Sieben Jahre waren vorüber. Reinhard sollte zu seiner weiteren Ausbildung die Stadt verlassen. Elisabeth konnte sich nicht in den Gedanken finden, daß es nun eine Zeit ganz ohne Reinhard geben werde ... (Th. Storm, »Immensee«)

Der Aufbau eigener Zeitstrukturen innerhalb der vom Präteritum geschaffenen Zeitebenen kann zur Ausbildung eines erzählerischen Futurs führen, das mit Hilfe des Präteritums und adverbialer Zeitangaben ausgedrückt wird29:

Morgen war Weihnachten. – In einer Stunde rief ihn der Vater. – Am Abend mußte er die Arheit fertig haben. – Beim nächsten Mal konnte er das nicht hinnehmen.

In einer mündlichen Sprechsituation wirken derartige Sätze, die zugleich Vergangenheit und Zukunft signalisieren, paradox. Verständlich werden sie vor allem aus der vom Erzähler mitgeteilten Bewußtseinssituation der handelnden Personen, wie sie sich in den stilistischen Sonderfomien des inneren Monologs, noch mehr in der Form der erlebten Rede spiegelt, die an anderer Stelle erläutert werden (vgl. S. I54ff.). Eine solche Wendung kann allerdings auch aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers vorgebracht werden, der damit die Situation seiner Roman-(Novellen- etc.)Figuren ver-

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deutlichen will. Der Fortgang der Erzählung könnte dann etwa das vorzeitige Handeln der Personen kennzeichnen:

Morgen war Weihnachten. Hans hatte noch keine Vorbereitungen für das Fest getroffen.

Für Gleichzeitigkeit und Nachzeitigkeit gelten dann ähnliche futurische bzw. konjunktivische Ausdrucksformen:

Morgen war Weihnachten. Er wußte nicht, was er dann tun sollte (wo er dann sein würde).

Die wichtigste Opposition zum Präteritum bleibt jedoch weiterhin, ganz im Sinne der consecutio temporum, das Plusquamperfekt, das die Vorzeitigkeit signalisiert. Daß auch Präsens und Perfekt als Oppositionen des Präteritums begegnen können, wurde bereits erwähnt. Präsens und Präteritum treten einander oft im Eingang von Erzählungen oder Erzählabschnitten gegenüber. Das Präsens gibt dabei meistens allgemeingültige Vorbemerkungen zur nachfolgenden Erzählung oder entsprechende Nachbemerkungen zum Erzählten, etwa in der Form moralischer oder sachlicher Erläuterungen:

Es gibt so wunderliche Herrschaften, daß es niemand bei ihnen aushalten könnte, wenn es nicht ebenso schlaues Gesinde gäbe. Einer verlangte früh im Bett ein Glas Wasser von seinem Bedienten ... (J. P. Hebel, »Wunderlichkeit«)

Dieses erläuternde Präsens unterscheidet sich vom »historischen Präsens« durch das Verlassen der Erzählebene. Hier wendet sich der Autor unmittelbar an das Publikum, während er mit Hilfe des »präsens historicum« nur das Geschehen verlebendigt, aber im Bereich der Erzählung bleibt.

Plusquamperfekt (vollendete Vergangenheit)

Das Plusquamperfekt, die mit einer Form von »hatten« oder »waren« und dem Partizip II gebildete Vergangenheitsforrn, ist bereits als Opposition zum Präteritum im Rahmen der consecutio temporum genannt worden. Im oberdeutschen Sprachgebiet, dem Gebiet des sogenannten Präteritumsschwundes, tritt es ebenso wie seine Oppositionsform weniger in Erscheinung, zumindest im mündlichen Sprachgebrauch. Soweit das Präsens als dominierendes Erzähltempus gilt, übernimmt das Perfekt die Rolle, die sonst dem Plusquamperfekt im Verhältnis zum Präteritum zukommt. Gelegentlich begegnen Formen des Plusquamperfekts in perfektivischer Verwendung30:

Ich gehe so auf der Straße; ich war nicht betrunken gewesen.

Zur Verstärkung des Vergangenheitscharakters wird, vor allem im oberdeutschen und mitteldeutsch-oberdeutschen Grenzraum, den Perfektformen von »haben« ein Partizip »gehabt« zugefügt, um auf diese Weise das Präteritum »hatten« zu vertreten:

Wir haben (hatten) einen guten Anfang gehabt (für: wir hatten einen guten Anfang)

In manchen volkstümlichen Ausdrucksformen wird »gehabt« auch anderen Plusquamperfektbildungen zugesetzt, teils um das der Vorvergangenheit (Vorzeitigkeit) Voranliegende zu kennzeichnen, teils um die Vorvergangenheit (Vorzeitigkeit) selbst – in verstärkter Form – auszudrücken:

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Ditte war zurückgekommen ... (Sie) hatte schon ein gutes Ende zurückgelegt gehabt. (M. Andersen-Nexö, »Ditte Menschenkind«)31 Eine bisher wenig beachtete Verwendungsart ist den Formen des Plusquamperfekts (in Opposition zu den Präteritumsformen) in der erlebten Rede eigen. Hier vertritt es häufig die Stelle aller Vergangenheitstempora, während das Präteritum den Ausdruck eigentlicher Präsensaussagen übernimmt, die ins entsprechende

Erzähltempus umgesetzt sind:

Hatte Hans es vergessen, fiel es ihm erst jetzt wieder ein, daß sie heute mittag ein wenig zusammen spazierengehen wollten? Und er selbst hatte sich seit der Verabredung beinahe unausgesetzt darauf gefreut.

(Th. Mann, »Tonio Kröger«)32 Das Plusquamperfekt wahrt in seiner Vollendung stets den Charakter einer komplementären Tempusform. Es bildet so ein wichtiges Differenzierungsmittel innerhalb der Vergangenheitsformen, das auch stilistisch genutzt und beachtet wird.

Futur

Es bleibt noch auf die Struktur und Verwendung der analytisch gebildeten Futurformen sowie auf weitere Ersatzformen hinzuweisen. Die futurische Aussage besitzt, ähnlich wie das Plusquamperfekt, nur einen kleinen Anteil innerhalb der verwendeten Tempusformen. In der deutschen Sprache setzte die Ausbildung besonderer grammatischer Tempusformen des Futurs erst im späten Mittelalter ein.33 Vorher zog man zum Ausdruck zukünftiger Geschehnisvorstellungen andere Verbformen heran, neben Präsensformen vor allem Bildungen mit Modalverben wie «sollen«, »müssen«, »werden«, von denen sich »werden« zuletzt neben seiner autosemantischen Funktion und nach der Passivfunktion als ausschließliches Hilfsverb analytisch gebildeter Futurformen durchsetzte. Bekanntlich konstatiert die traditionelle Grammatik zwei mit »werden« gebildete Futurformen reihen: das Futur I (unvollendete Zukunft) mit der finiten Form von »werden« und dem Infinitiv des betreffenden Verbs (z.B. er wird warten) und das Futur II (futururn exactum, vollendete Zukunft) mit der finiten Form von »werden« und dem Partizip II und dem Infinitiv »haben« oder »sein« (z. B. er wird gekommen sein – er wird es getan haben).

Wie bei allen erst später ausgebildeten grammatischen (morphematischen und syntaktischen) Formen, so konkurrieren auch diese Futurbildungen mit älteren Formvarianten. Wir haben einige Beispiele dafür bereits im Bereich des Präsens wie der Vergangenheitsternpora kennengelernt. Als wichtige Nebenformen mit zusätzlicher futurischer Bedeutung sind hier die bereits erwähnten Modalverben zu nennen34: Sätze wie ich soll es tun, ich muß warten, ich will es sehen haben durchaus futurischen Sinn. Bildungen mit »werden« weisen jedoch keinerlei Hinweise auf das Obligatorische des Geschehens auf und sind neutraler33, gegenüber präsentischen Futurausdrücken

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dagegen bestimmter, nachdrücklicher, sie verdeutlichen oft mehr modale Bedeutungen der Bestimmtheil oder Vermutung als futurische Bezüge.

Als Futurausdruck innerhalb des präteritalen Erzähltempus fungiert oft die Konjunktiv-II-Form von »werden«:

Jürgen wußte, daß die Sonne kommen würde. – Er würde es nicht zulassen, daß ...

Der Erwartungscharakter, der in den futurischen Formen zur Geltung kommt, kann auch durch mehrere persönliche oder unpersönliche Wendungen (mit »es«) ausgedrückt und verstärkt werden:

Er wird kommen. – Es kann damit gerechnet werden, daß er kommt. – Es ist damit zu rechnen, daß er kommt.

(Ähnlich: Es wird sich finden [zeigen, herausstellen, erweisen], daß ...)

Die Futurformen mit »werden«, so betont J. Erben36, schaffen eine gewisse Distanz zum Erwarteten und Angekündigten und weisen mitunter selbst modale Konnotationen (Nebenbedeutungen) auf; sie können so – meistens in Verbindung mit Zusatzadverbien, Kontext und Situation – als Drohung (Dir werde ich helfen!), Forderung (Du wirst das tun!), Annahme (Es wird schon kommen) u.ä. begegnen.

Ähnlich verhält es sich mit dem Futur II (vollendete Zukunft, futurum exactum), das zum Ausdruck bringen soll, »daß sich ein Geschehen vom Standpunkt des Sprechers aus gesehen (meist vor einem andern Geschehen) in der Zukunft vollendet«37, z.B.:

Ich werde die Arbeit geschafft haben, wenn du kommst.

Die Leistung des Futur II wird somit, wie die Nebenbezeichnungen andeuten, in der verbindlichen Festlegung des Abschlusses einer künftigen Handlung oder eines künftigen Geschehens gesehen. Der Erwartungscharakter des Futur I ist hier gewissermaßen dem Charakter einer festen Zusicherung gewichen, vor allem wenn diese Tempusform in der 1. Person verwendet wird, dem einer Voraussage oder Behauptung in den übrigen Personalformen.

Es mag an dieser mehr oder weniger bindenden Vorwegnahme derartiger Aussagen liegen, daß diese Form so wenig verwendet wird, sich allenfalls in Briefen oder Gesprächen oder in politischen Verlautbarungen (z.B. planwirtschaftlicher Systeme) findet; z.B.:

Morgen, um diese Zeit werde ich dort gewesen sein. – Am 7. Oktober werden wir den Volkswirtschaftsplan mit 80% erfüllt haben.

Eine Variante des vollendeten Futurs kann durch das bloße Perfekt, oft in Verbindung mit einer futurischen Zeitangabe, gebildet werden:

In einer Stunde habe ich die Arbeit geschafft. – Übermorgen bin ich dort gewesen.

Wir haben ähnliche Formen schon im Zusammenhang perfektivisch gebildeter Voraussagen kennengelernt:

Der Brief ist schnell geschrieben. – Das Schwimmbad ist bald überfüllt.

Sollen derartige Aussagen in der Vergangenheit erscheinen, so ist das Plusquamperfekt zu wählen:

Der Brief war bald geschrieben.

Trotz des Bestimmtheitscharakters dieser Formen kann das Futur II, mei-

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