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Deutsche_Stilistik

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Mit dem Brief kam neue Hoffnung. Vom Rückgang im Formengebrauch ist auch der Konjunktiv betroffen. Die damit zusammenhängenden Einnahmen sind an den Bund abzuführen. Die Stadt, kurz vor Herbst noch in Glut getaucht, nach dem kühlen Regensommer dieses Jahres, atmete heftiger als sonst.8

Niemand wird diese vier verschiedenen Sätze als einTextkontinuum ansehen. Vergeblich sucht man hier nach dem Zusammenhang. Weder in ihrer inhaltlichen Aussage noch im Tempus noch in der Reihenfolge der Informationen passen sie zueinander. Wir können lediglich vermuten, daß der erste und der letzte Satz bestimmten, voneinander verschiedenen Schilderungen angehören (Brief: Stadt), daß der zweite Satz aus einem grammatischen oder sprachgeschichtlichen Text stammt und der dritte aus einem Gesetzestext oder ähnlichem entnommen ist. Dafür sprechen verschiedene Anzeichen: die Benutzung des »Erzähltempus«9, des Präteritums, im ersten und vierten Satz, die Verbindung eines Abstraktums mit einem »konkreten« Vorgangsverb im ersten Satz, die Personifikation eines Kollektivbegriffs (Stadt - atmete) sowie die metaphorische Kennzeichnung der optischen Erscheinung (in Glut getaucht) im vierten Satz, die Benutzung zweier linguistischer Fachtermini (Formengebrauch, Konjunktiv) sowie das »Tempus der Feststellung« im zweiten Satz und schließlich die Umschreibung eines Imperativs durch eine finale Infinitivkonstruktion und die staatsrechtlichen und finanztechnischen Termini (Einnahmen, Bund) im dritten Satz. Alle vier Sätze enthalten zudem semantische oder grammatische Hinweise auf andere Textzusammenhänge, die den Satzbeispielen vorangehen (auch, damit zusammenhängenden) oder, soweit es sich um Erzählanfänge handelt, aus dem späteren Kontext erläutert werden (dem Brief, die Stadt, dieses Jahres), also nicht allein stehen können.10 Derlei Hinweise stellen Erinnerungsbzw. Erwartungshilfen dar, die den Hörer oder Leser auf einen Textzusammenhang verweisen sollen.

Aus diesen Beobachtungen ergibt sich als erste Bedingung eines Textes die Wahrung des inhaltlichen Zusammenhangs (der semantischen Kohärenz) aller Textpartien. Eine Charakterisierung des Textes als bloße Folge von Sätzen oder gar als »langer Satz«11 genügt nicht. Der inhaltliche Zusammenhang kann als Einheit eines Sachzusammenhangs, einer Vorgangsoder Handlungseinheit mit entsprechender Erzählfolge (Sequenz) und Tempuseinheit gewahrt bleiben, er kann jedoch auch durch das Gefüge der Gattung garantiert sein. Eine Schilderung von Beobachtungen etwa oder ein persönlicher Brief können durchaus scheinbar unzusammenhängende Einzelheiten aufzähend aneinanderreihen; die Einheit des Textes wird dabei durch einleitende oder abschließende Hinweise gewährleistet. Auch in der Dichtung finden sich solche Verbindungen. In J. P. Hebels Erzählung »Unverhofftes Wiedersehen« z.B. verabschiedet sich ein junger Bergmann an einem Morgen von seiner Braut, geht zur Grube, kehrt aber nie zurück. Zwischen diese Schilderung, und die Wiederentdeckung nach fünfzig Jahren fügt der Dichter eine Aufzählung welthistorischer wie alltäglicher Ereignisse ein, die - mit der Konjunktion »unterdessen« eingeleitet - den Zeitverlauf charakterisieren und die Beständigkeit der Liebe der Braut unterstreichen. Dieses »unter-

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dessen bietet die kontextuale Verknüpfung mit dem Vorangehenden, schafft aber zugleich auch die Voraussetzung für den folgenden Text.

Der inhaltlich-sachliche Zusammenhang allein reicht jedoch nicht aus, um einen Text zu konstituieren. Das folgende Beispiel macht dies deutlich:

Der Mais stand regungslos; über der freien, glänzenden Landschaft lag eine unbeschreibliche Stille; von den Gipfe1n der fernen Berge stiegen Morgenwolken wie stille Rauchwolken gegen den leuchtenden Himmel und zwischen Baumgruppen, die aussahen wie gewaschen, glänzten Landhäuser und Kirchen her. Den 22. Juli 1848, vor 6 Uhr morgens, verließ ein Strafkommando, die zweite Eskadron von Wallmodenkürassieren, Rittmeister Baron Rofrano mit hundertsieben Reitern, das Kasino San Alessandro und ritt gegen Mailand. Kaum hatte das Streifkommando die äußerste Vorpostenlinie der eigenen Armee etwa um eine Meile hinter sich gelassen, als zwischen den Maisfeldern Waffen aufblitzten und die Avantgarde feindliche Fußtruppen meldete. 12

Die Sätze gehören offenbar zusammen: im ersten und zweiten Satz ist vom Morgen die Rede, im ersten und dritten Satz von Maisfeldern und Baumgruppen; der zweite und dritte bilden sogar einen Handlungszusammenhang. Der Text offenbart jedoch dem aufmerksamen Leser mehrere Brüche in der semantischen und stilistischen Kohärenz, obgleich es sich hier um die ersten drei Sätze eines Textes, nämlich Hugo von Hofmannsthals »Reitergeschichte« handelt. - Allerdings haben wir einige Umstellungen vorgenommen.

Die auffallendste Diskrepanz besteht zwischen dem ersten und zweiten Satz. Zwar ist eine Novelleneinleitung durch eine Landschaftsschilderung nichts Ungewöhnliches. Störend wirken jedoch die genaue Zeitangabe und Angabe der Umstände im berichtenden zweiten Satz.

Worauf ist dieser Eindruck zurückzuführen? Es mag sein, daß wir auch hier, durch die hinweisende (deiktische) Wirkung des einleitenden über der . . . Landschaft veranlaßt, einen vorangehenden oder nachfolgenden Hinweis auf diese Landschaft vermissen, den die Ortsangabe des zweiten Satzes nicht bietet. Vergleiche mit anderen Texten zeigen uns jedoch, daß auch in ähnlichen Fällen die genaue Zeitangabe häufig vorangeht, sofern sie nicht in einem temporalen Nebensatz unmittelbar angeschlossen wird (z.B. Es läuteten gerade die Domglocken, als ich am 10. Juli in Köln ankam). Vielleicht hängt es auch damit zusammen, daß bei Kombinationen von berichtenden und schildernden Ausdrucksweisen die berichtende der schildernden meistend vorangeht. Die szenische Verbreiterung, die hier durch die Landschaftsschilderung geleistet wird, setzt den einführenden Berichtssatz voraus. In Hofmannsthals Text steht dann auch unser zweiter Satz mit der präzisen Zeitangabe zuerst. Die Schilderung der Natur bezieht sich dann auf die Szene um San Alessandro beim Ausritt der Eskadron und bildet so eine wohlkomponierte Unterbrechung des Geschehens, die die konträre Grundstimmung der Novelle bereits am Anfang vorwegnimmt. 13

Aber auch die reihende Landschaftsschilderung unserer Textmontage ist stilistisch mißglückt. In Hofmannsthals Fassung wird nämlich zuerst der Gesamteindruck geschildert: Über der freien, glänzenden Landschaft lag eine

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unbeschreibliche Stille; dieser Eindruck wird dann in Einzelbildern bestätigt, die in der Ferne ansetzen und sich dem Miterlebenden nähern, also eine beliebte Darbietungsform nutzen, wie sie schon Goethes »Über allen Gipfeln . . .« kennt. In der »Reitergeschichte« - folgen dem Gesamteindruck die Bilder der Gipfel, des stillen Maisfeldes und der Baumgruppe. Ein zusammenfassender Gesamteindruck wäre allerdings ebenfalls möglich gewesen. Der Autor hält sich also an bestimmte Erfordernisse der Wahrnehmung. Erkenntnismäßige und zeiltliche Ordnung bilden somit eine weitere Grundlage der Textkontinuität.

Über derartige inhaltliche Verklammerungen des textlichen Gefüges hinaus gibt es manche sprachlichen Signale, die diese Einheit des Textes betonen. Solche Signale, die von der Textlinguistik im einzelnen erforscht werden, sind z.B. Pronomina (besonders Personalund Demonstartivpronomina), die als Verweiswörter vorangegangene Substantive oder adverbiale Angaben vertreten, sowie Ortsund Zeitangaben, die für längere Abschnitte bis zu ihrem Widerruf oder ihrer Ablösung gelten.

Darüber hinaus wird man auch die Art und Weise der Darstellung in einem Text, seinem Sprachstil, als ein wichtiges textkonstituierendes Element ansehen müssen. Bereits die Philologie im 19. Jh. hat in manchen älteren Dichtungen zahlreiche Beispiele von Texteinschüben (Interpolationen) durch fremde Hand allein aufgrund stilistischer Unterschiede entdecken können. Vor rund 100 Jahren, im Jahre 1875, erregte der nachmals berühmte Germanist Eduard Sievers, einiges Aufsehen, als er aufgrund solcher Stilmerkmale (wie auch inhaltlicher Wiederholungen) für größere Teile einer angelsächsischen Bibeldichtung den angelsächsischen Ursprang bestritt, sie vielmehr als ursprünglich altsächsische Stabreimverse auffaßte und in die Nähe des »Heliand« rückte.14 Sievers' Annahmen wurden glänzend bestätigt, als man 1889 in der Vatikanischen Bibliothek tatsächlich altsächsische Bruchstücke der von Sievers als Interpolation erkannten Textpartien entdeckte. Das Beispiel sei hier nur angeführt, um auf die Wichtigkeit des Sprachstils als eines konstitutiven Faktors der Textgestaltung und Texteiheit hinzuweisen. Noch heute wird dieser Umstand darin berücksichtigt, daß man Echtheitsfragen von Texten aufgrund von stilstatistischen Untersuchungen mit Hilfe von Computern zu beantworten sucht.

Auch an neueren Texten läßt sich die Notwendigkeit der stilistischen Einheit eines Textes sinnenfällig machen. Wir betrachten aus diesem Grunde folgenden Text:

Einmal lagen wir auf warmer Mittagsrast in einem waldigen Tal, warfen uns mit Tannenzapfen und sangen Verse aus der »Frommen Helene« auf gefühlvolle Melodien. Das kühl verlockende Plätschern des raschen, klaren Baches tönte uns ins Ohr bis zu unserer Entkleidung und bis zu unserem Hineinlegen ins kalte Wasser. Da kam er auf die Idee, »Komödie« zu spielen.

Wer diese Sätze aufmerksam liest, wird den zweiten Satz mit seinen Nominalisierungen verbaler Ausdrücke als unschön und stilwidrig empfinden. Solche Wendungen wie »unsere Entkleidung und unser Hineinlegen«, die zudem doppeldeutig sind, kann man allenfalls in schlechtem Bürokratendeutsch

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erwarten, nicht aber in einer schlichten Erlebnisschilderung, von der die beiden anderen Sätzen Zeugnis geben. Nun stammen auch nur diese beiden Sätze von Hermann Hesse. Der mittlere Satz, den wir hier enstellend umformten, lautet bei Hesse im »Peter Camenzind«:

Der rasche, kühle Bach plätscherte uns so lange kühl verlockend ins Ohr, bis wir uns entkleideten und uns ins kalte Wasser legten.15

Er folgt also in der Vorliebe für verbale Vorgangskennzeichnungen den Stiltendenzen, die in den übrigen Sätzen sichtbar werden.

Unsere Umformung sollte verdeutlichen, daß zur Einheit des Textes auch dessen stilistische Einheit zählt, was allerdings keine Einförmigkeit bedeutet, sondern nur die Dominanz bestimmter zweckentsprechender Stilformen (vgl. S. 280 ff.). In poetischen Texten kann bereits eine geringe Abweichung von der gewählten Ausdrucksform, zu der manchmal auch Metrik und Reim zählen, einen Stilbruch bedeuten, wenn auch ein solcher Verstoß keinen Bruch der Texteinheit darstellt.

Selbst in nichtpoetischen Texten gelten derartige Stilbrüche in der Form des Wechsels der Stilarten als unstatthaft.

Als drittes Merkmal der Einheit eines Textes wurde dessen akustische bzw. optische Gestaltung genannt. Wenn es sich dabei um recht sekundäre und wenig exakte Kennzeichen handelt, so sollten sie schon deswegen nicht unerwähnt bleiben, weil ihnen bestimmte rationale Entscheidungen zugrunde liegen, die wiederum auf inhaltlichen wie strukturellen Textabgrenzungen beruhen. Akustisch werden Beginn und Ende eines Textes durch das Erklingen oder Verklingen eines bestimmten isolierten Redetons angezeigt. Soweit Texte allgemeinen Kommunikationsbedingungen unterliegen, werden sie meistens in kontinuierlicher Abfolge gesprochen. Dies gilt vor allem für monologische Texte wie Reden, Vorträge, Vorlesungen, Bekanntgaben u.ä. Die inhaltlich-strukturelle Texteinheit wird allerdings dabei vorausgesetzt. Die Texteinheit dialogischer Texte ist akustisch weniger leicht erfaßbar, doch wird man auch hier die Geschlossenheit der Redefolge als Krirerium ansehen können, auch wenn es sich im einzelnen um stilistisch unterschiedliche Redeweisen der Dialogpartner handelt.

Optisch wird die Textbegrenzung und Textgliederung durch die Aufteilung in Abschnitte, Kapitel, Bücher u.dgl. ermöglicht. Sie ist mitunter nur das Werk eines Redakteurs, geht aber oft auf bestimmte Gliederungswünsche des Autors zurück, der damit ein visuell wirksames Stilmittel zu nutzen sucht. Ein großer Teil moderner Gedichte beispielsweise verlöre beim stillen Lesen seine Wirkung, wenn die Setzer die Druckanweisungen des Autors nicht beachteten.

Ebenso wie Wortstellung und Interpunktion beispielsweise die Gestaltung und Wirkung eines Textes mitbestimmen und deshalb von vielen Autoren besonders beachtet (oder bewußt vernachlässigt werden) (vgl. S. 157ff.), wie ein Vergleich mancher Dichterhandschriften mit ihren zahlreichen Korrekturen lehrt (z. B. Hölderlin, Kleist), ebenso kann auch die äußereTextgliederung das Bemühen um eine besondere Wirksamkeit des Gesagten spiegeln (vgl. S. 160).

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Stilistische Erfordernisse der Textgestaltung

Die inhaltlich-funktionale und zugleich stilistische Einheit eines Textes erfordert vom jeweiligen Verfasser, daß er bestimmte Prinzipien der Text-gestaltung beachtet, damit die notwendige informative und stilistische Geschlossenheit erreicht wird. Der Textgestalter wie der Stilbetrachter sollten diese Gestaltungsprinzipien kennen. Es handelt sich dabei weniger um funktional bestimmte Gestaltungen als vielmehr um »innere« Kennzeichen und Erfordernisse, die das Gefüge eines Textes je nach Funktion und Textsorte in unterschiedlichem Maße prägen und so seine Eigenart und Wirksamkeit bestimmen.15a

Folgerichtigkeit

Als erstes stilistisches Erfordernis sei die Folgerichtigkeit genannt, die jeder Text aufweisen sollte. Sie steht in engem Zusammenhang mit dem Prinzip der notwendigen Einheit des Textes, führt allerdings über diese mehr statische Eigenschaft hinaus zu einer dynamischen Textauffassung. Das Adjektiv »folgerichtig«, das dem Substantiv zugrunde liegt, wird in den Wörterbüchern umschrieben als »so wie es die Tatsachen vorschreiben oder nahelegen, die richtige Schlußfolgerung ziehend (und sich danach verhaltend); planmäßig, konsequent, logisch. Ggs.: folgewidrig«.

»Folgerichtig« kann demnach als Eigenschaft des Handelns, Verhaltens, Redens und Denkens angesehen werden. Die »richtige Folge«, auf die es hier jeweils ankommt, kann sich aus bestimmten Ursachen, Bedingungen oder anderen Umständen ergeben und mehr logischer oder situativer Natur sein; doch auch sprachliche Darstellungen können derartige Gedankenoder Lebensvörgänge wiedergeben und dementsprechend aufgebaut sein. Insbesondere wird man von theoretischen Erörterungen, wissenschaftlichen Abhandlungen, aber auch von Vorgangsbeschreibungen, Erlebnisberichten, Gegenstandsbeschreibungen u.dgl. eine folgerichtige Gestaltung erwarten. Im einzelnen bedeutet dies, daß die informativen Einzelheiten eines Textes im Zusammenhang stehen und aufeinander aufbauen, daß sich eins aus dem anderen entwickelt und keine unbeabsichtigten Informationslücken oder gedanklichen Brüche entstehen. Es gibt natürlich Textformen des »Fragments«. Ihr Textcharakter endet hier jedoch stets mit dem einzelnen Text (Aphorismus, Bonmot, Zitat usw.). Auch werden textliche Zusammenhänge und Übergänge von den einzelnen Autoren in den verschiedenen Gattungen in unterschiedlichem Maße berücksichtigt und ausgeformt. Es gibt Autoren, die recht »flüssig« schreiben, indem sie geschickt von einer Information zur anderen überleiten, und es gibt andere, deren Stil recht lose, abgehackt, stakkatoartig wirkt, weil sie die Einzelheiten des Textes zu wenig verklammern. Trotzdem wird man ihren Werken nur selten die Folgerichtigkeit der Darlegungen absprechen können. Wo aber Äußerungen ohne formulierten Zusammenhang begegnen, ist der Text-

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charakter selbst in Frage gestellt.

Vor einiger Zeit veröffentlichte ein Stilkritiker folgende Darlegungen eines Studenten über Brechts Drama »Das Leben des Galilei«:16

An die Stelle des herkömmlichen christlichen Glaubens tritt in neuerer Zeit der Zweifel, womit »Wissen« gewonnen wird. Alles Lebendige ist bewegt, pulsiert, atmet: denn Leben schlechthin ist nicht Starrheit, sondern Bewegung. Jeder Linsenschleifer, jeder Maurer, jedes Fischweib wird selbständig. Denn sie trachten alle danach, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern und von unserer riesigen Unwissenheit ein wenig abzutragen.

Der besagte Stilist schreibt dazu: »Diese Sätze waren in dem Text, dem sie entnommen sind, in keiner Weise verständlicher, als sie, herausgelöst aus diesem Zusammenhang, erscheinen.« Es soll hier nicht auf die einzelnen Lücken des Textes eingegangen werden; ebenso nicht auf die stilistischen Eigenarten. Lediglich der mangelnde gedankliche Zusammenhang und die mangelnde Folgerichtigkeit der Einzelsätze sollen beachtet werden. Was hier im einzelnen fehlt, kann der Vergleich mit einer rekonstruierten Fassung des Gemeinten durch den Stilkritiker zeigen.

An die Stelle des herkömmlichen christlichen Glaubens ist in den neueren Jahrhunderten der wissenschaftliche Zweifel getreten, der jede Aussage auf ihren Wahrheitsgehalt prüft. Er gestattet ein unvoreingenommenes Urteil und führt zu einem Wissen, das der gegebenen Wirklichkeit, in der wir leben, abgewonnen ist. Dabei wird im Verlauf der Zeiten von unserer riesigen Unwissenheit ein kleines Stück um das andere abgetragen. So wird z.B. erkannt, daß das Leben nicht Starrheit ist sondern Bewegung. Also müssen auch die gesellschaftlichen Zustände veränderbar sein. Den bisher Unterdrückten und Ausgebeuteten eröffnet sich die Aussicht, selbständiger zu werden. Jeder Linsenschleifer, jedes Fischweib kann auf ein menschenwürdiges Dasein hoffen, kurz, allen Entrechteten kann die Mühseligkeit ihrer Existenz erleichtert werden.

Zu große Gedankenschritte schaffen leicht Verstehenslücken, erschweren das Verständnis und erwecken Zweifel an der Richtigkeit des Gesagten. Nur in Kurztexten ohne Erläuterungsabsicht, also in Werbeslogans, politischen Parolen, Nachrichtenschlagzeilen u.dgl., denen oft weitere Erläuterungen beigegeben sind, gehören die informativen »Sprünge« zum funktionalen Stil. Wo solche Texte jedoch für sich stehen, um Erwartungsoder Assoziationsreaktionen auszulösen, ist die Möglichkeit der Fehlintormation leicht gegeben.

Auch in erzählenden Texten kann die lückenhafte Darstellung gelegentlich zur charakteristischen Gestaltungsweise gehören. Schon J. G. Herder (1744-1803) hat die Technik der »Sprünge« als auffallendes, aber sinnvolles Merkmal der »Volkspoesie« gelobt. Seitdem ist diese Darbietungsform in Balladen und Liedern häufig angewandt worden. Die erzählerische »Gipfeltechnik«, die nur die wichtigsten Kindheiten eines Vorgangs herausgreift und darstellt, verfährt durchaus folgerichtig, wenn sie die Auswahl so trifft, daß Phantasie und Erfahrung des Lesers oder Hörers die ausgesparten Zwischengeschehnisse selbst hinzudenken können. Eine derartige Darstellungsweise steht der lyrischen Gestaltung nahe, die ebenfalls größere Vorstellungsoder Erlebniszusammenhänge oft nur andeutet und gerade durch die ausspa-

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renden Andeutungen wirkt. In anderer Form begegnet uns die auswählende Gipfeltechnik in dramatischen Dichtungen und Filmdrehbüchern, wo die Konzentration auf eine begrenzte Aufführungszeit und die dramatische Zuspitzung den Verzicht auf kontinuierliche Übergänge notwendig machen.

Derartige Aussparungen bedeuten jedoch keinen Verstoß gegen die Folgerichtigkeit. Selbst wenn in dichterischen Texten der Zeitoder Motivationszusammenhang nicht mehr gewahrt wird, was in neueren Dichtungen häufig begegnet, so braucht dies nicht folgewidrig zu sein. Hier zeigt sich, wie überall in der Stilistik, daß der Stilfehler in einer bestimmten Textsorte bei geschickter Verwendung ein Darstellungsund Stilmittel in einer anderen sein kann.

Die Folgerichtigkeit erweist sich nicht nur im größeren Textzusammenhang als Notwendigkeit; auch für die sprachlichen Gestaltungsmittel erfordert dieses Prinzip Beachtung. Ebenso wie ein größerer Text, so weckt auch jeder Satz während seiner Formulierung bestimmte Kombinationserwartungen, die durch außersprachliche Verbindungen wie durch sprachliche Kontextbeziehungen bedingt sind und im Sprachbewußtsein der Hörer oder Leser ausgelöst werden. Wenn es in einem Text heißt: In der Ferne bellte ..., so ist der semantische Erwartungsspielraum für uns recht eng, wir verbinden mit dem Verb bellen als mögliche Subiekte nur Wörter wie »Hund«, »Wolf«, »Fuchs« u.ä. oder deren Synonyme (»Köter«, »Tier« usw.). Der Satz In der Ferne bellte ein Hund ist somit im semantischen Sinne folgerichtig. Allerdings sind auch hier Ausnahmen möglich, und zwar wenn das Verb »bellen« metaphorisch verwendet wird, z.B. für das Subjekt »Maschinengewehr«, das auf diese Weise personifiziert wird, indem man es einem Tier gleichsetzt. Abweichungen von der erwarteten Wortfolge, also Verstöße gegen die sprachliche Folgerichtigkeit, die meistens als »Stilfehler« bezeichnet werden (obwohl es sich um Wortfehler handelt), finden sich häufig bei idiomatischen Wendungen oder bei Funktionsverben17 vom Typ zur Verfügung stellen, wenn es etwa heißt: zu Hilfe gehen (statt: kommen, eilen), in Erwägung nehmen (statt: ziehen), zur Rede bringen

(statt: stellen) usw. - Als fehlerhafte »Stilblüten« gelten allerdings die Bildbrüche oder Katachresen, die aus dem Zusammenfall (der Kontamination) zweier Sprachbilder oder Redensarten entstehen, z.B. Die Säule des Staates wurde geboren (statt: zerstört), Das schlägt dem Fuß die Krone ins Gesicht (statt: den Boden aus), Laß nicht des Neides Zügel umnebeln deinen Geist (statt: dich beherrschen). Hierher gehören auch widersprüchliche Bilder wie z.B. Das Flugzeug tauchte vom Himmel herab auf. 18

Im syntaktischen Bereich gibt es ähnliche Kombinationserwartungen. So rechnen wir bei transitiven Verben meistens mit bestimmten Objekten, bei Lageverben (sitzen, liegen, sich befinden, stehen usw.) mit Ortsangaben, bei Artikeln mit nachfolgenden Substantiven usw. Verstöße gegen derartige Erfordernisse werten wir als grammatische Fehler, wir tolerieren sie jedoch mitunter, wenn sie in bestimmten Textsorten als Stilmittel verwendet werden. Die Auslassung notwendiger Satzteile (Aposiopese, E11ipse) kann - wie wir noch sehen werden - recht wirkungsvoll genutzt werden. Dasselbe

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gilt für Veränderungen der begonnenen Satzkonstruktion (Anakoluth). In der antiken Rhetorik konnten sogar Verstöße gegen die zeitliche oder kausale Reihenfolge als Stilmittel (hysteron proteron) eingesetzt werden. Auch in mittelalterlichen Texten findet sich diese Erscheinung öfter, und noch Goethe nutzt diese Möglichkeit, wenn er, offenbar in parodistischer Verwendung, Mephisto zu Frau Marthe sprechen läßt:

Ihr Mann ist tot und läßt sie grüßen (»Faust«, V. 2916)

Das »hysteron proteron« erklärt sich aus der Vorwegnahme des affektisch besonders interessierenden Geschehensablaufs und der Nachstellung der gedanklichen Erläuterung. Heute kommt eine derartige Durchbrechung der psychologischen Kausalität kaum noch vor. Vertauschungen von Ursache und Folge, Vorangehendem und Folgendem, Bedingung und Wirkung, sofern sie nicht syntaktisch (etwa in der »consecutio temporum«) oder stilistisch (als Stilmittel) bedingt sind, wird man heute als Fehler ansehen müssen, etwa Vertauschungcn folgender Art:

Er bestand das Abitur 1968 und besuchte von 1959 bis 1968 das Gymnasium. Als Verstöße gegen die Folgerichtigkeit können auch unlogische Verknüpfungen von Gegenständen oder Bereichen in falscher Reihenfolge gelten:

Der Körper des jungen Menschen braucht Ersatzund Bauteile, die Verbrauchtes ersetzen und den Körper vergrößern. 19

Hier lautet die richtige Fassung:

Der Körper eines jungen Menschen braucht Baustoffe, die das Wachstum ermöglichen, und Ersatzstoffe, die Verbrauchtes ersetzen.

Schließlich sei auch auf die zahlreichen Fehlermöglichkeiten im Bereich der Satzgefüge hingewiesen. Da es sich bei allen Satzgefügen um Kopplungen von Aussagen in einer bestimmten Zuordnung (kausal, konditional, konsekutiv usw.) handelt, kann hier leicht gegen die Folgerichtigkeit verstoßen werden, wenn man die Konjunktionen verwechselt oder falsch zuordnet. Solche Vertauschungen ergeben sich aufgrund der sich wandelnden Geltungsbereiche der Konjunktionen. Wir greifen nur einige Fälle heraus: Konjunktionsverwechselungen finden sich gelegentlich bei »nachdem«, das die Vorzeitigkeit eines Geschehens signalisiert, und »seitdem«, das das Andauern eines Zustandes ausdrückt; es heißt also nicht: Er ist ein anderer Mensch, nachdem er den Unfall hatte, sondern: Er ist ein anderer Mensch, seitdem er den Unfall hatte. Aber: Er wurde ein anderer Mensch, nachdem er den Unfall erlebt hatte.

Auch »indem« und »während« werden oft vertauscht, weil »indem« modal verwendet wird, früher aber auch temporale (gleichzeitige) Gliedsätze einleitete, »wahrend« dagegen nur bei »temporalen« oder »adversativen« Gliedsätzen stehen kann. In Zweite1sfällen sollte man dabei eine eindeutigere Konjunktion wählen.

Ähnliche Fehlermöglichkeiten ergeben sich häufig bei Relativsätzen, wenn sie nicht unmittelbar an das Bezugswort angefügt werden, so daß durch die falsche Wortstellung die Aussage verkehrt werden kann.

Also nicht: Der Admiral W. ist von der Elbmündung in Berlin eingetroffen,

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wo das amerikanische Kriegsschiff Anker geworfen hat. 20

Sondern: Der Admiral W. ist von der Elbmündung, wo das amerikanische Kriegsschiff Anker geworfen hat, nach Berlin gereist.

Die Verbindung von ... eingetroffen des ersten Satzes bedürfte zudem einer Ergänzung durch von ... kommend.

Schwierigkeiten bieten sich mitunter bei Begriffen mit unterschiedlichem Kasus in Relativsätzen. Jeder Kasussowie Bezugswechsel sollte dabei besonders gekennzeichnet werden.

Nicht: Die Jäger mußten die Hörner der Auerochsen in der Volksversammlung vorzeigen und wurden in Silber gefaßt und als Trinkbecher benutzt. Sondern: Die Jager. . . vorzeigen. Diese wurden in Silber. . .

In Relativsätzen finden sich gelegentlich auch Fehler gegen die zeitliche Abfolge der Geschehnisse:

Nicht: Er will dort neue Verhandlungen führen, von denen er erst gestern zurückgekehrt ist.

Sondern: Er will dort neue Verhandlungen führen, obgleich er erst gestern von anderen zurückgekehrt ist.

Klarheit

Neben der Folgerichtigkeit gehört die Klarheit eines Textes zu den wichtigsten Erfordernissen der Textgestaltung und zugleich zu den wichtigsten Stilprinzipien für die meisten Texte. Die Forderung nach Klarheit des sprachlichen Ausdrucks ergibt sich aus der kommunikativen Funktion sprachlicher Informationen. Ganz gleich, ob wir einem anderen etwas mitteilen wollen oder etwas zu unserer eigenen Wissensbereicherung formulieren, Klarheit, d.h. Deutlichkeit und leichte Erfaßbarkeit des jeweiligen Textes, begünstigt die Verständigung über bestimmte Redegegenstände. Daß sie nicht immer als selbstverständlich empfunden wurde, soll später erläutert werden. Zunächst gehen wir von der Anerkennung dieser Forderung aus.

Es gibt eine Reihe stilistischer Hilfen, die - richtig angewendet - Texte verständlicher werden lassen. Es handelt sich dabei um Stilregeln, die in den meisten Stilistiken wiederkehren. Wir suchen sie im folgenden als Leitsätze zur Textgestaltung zu fassen und an Beispielen zu erläutern, bevor wir auf die Fehlermöglichkeiten und Einwände gegen die Forderung nach sprachlicher Klarheit hinweisen.

Man kann, dem Beispiel Immanuel Kants folgend21, eine diskursive und eine intuitive (ästhetische) »Klarheit« oder, wie Kant sagt, »Deutlichkeit« unterscheiden. Die diskursive Deutlichkeit wirkt durch Begriffe, die intuitive oder ästhetische durch Anschauungen, d.i. Beispiele oder andere Erläuterungen. Kant erläutert in der Vorrede der »Kritik der reinen Vernunft« die Schwierigkeit jedes (wissenschaftlichen) Autors, sich zwischen einer stärker begrifflichen oder stärker anschaulichen Darstellungsweise entscheiden zu müssen. Nach Kants Auffassung erleichtern die »Hilfsmittel der Deutlichkeit« das Verständnis einzelner Gedanken und Gedankengänge, erschweren

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