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Sowinski-Deutsche_Stilistik.doc
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Präsens (Gegenwartsform, 1. Stammform)

Das Präsens ist die Tempusform, mit deren Hilfe der Sprecher einen Sachverhalt als gegenwärtig seiend oder geschehend oder als allgemeingültig empfunden beschreibt. »Ablaufendes, Bestehendes, Geltendes faßt der Sprecher mit der (1. Stamm-)Form des Präsens als bewußtseinsnahe ›Gegen-wart‹ = das ihm Entgegen-und Zugewandte, mit dem er es zu tun hat.10« Es kann

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sich dabei um die Kennzeichnung einer vorhandenen oder möglichen gleichzeitigen Gegenwärtigkeit eines außersprachlichen Faktums handeln, wie z.B. in der Fernsehansage: Es ist genau 20 Uhr 15. Wir schalten um nach Frankfurt, oder einen gegebenen oder möglichen andauernden oder sich wiederholenden Zustand: Er ist krank. München liegt an der Isar. Jeden Morgen geht die Sonne auf. Bronze ist eine Metallegierung. Dreimal drei ist neun.

Die genannten Beispiele lassen eine aktuale (momentane) und eine atemporale (ständige) Bedeutung des Präsens erkennen.11 Beide Bedeutungen treten meistens alternativ auf und werden dabei durch die Wortwahl (perfektive oder durative Verben), die Situation (Er ist [z.Z.] krank – er ist [immer] krank) oder durch temporale Adverbien (jetzt, nun, immer) näher charakterisiert. Während das atemporal verwendete Präsens alleiniges Tempus bestimmter Aussagen ist, steht das aktuale Präsens, das die subjektive Einschätzung der Gegebenheiten ausdrückt, in Opposition zu den anderen Tempora, durch die das Geschehen als in anderen Zeitrelationen gegeben betrachtet werden kann. Das Präsens kann deshalb auch als «temporale Nullform« bezeichnet werden.

Die genaue Zeitdauer oder der Zeitabstand der ausgedrückten Sachverhalte wird nicht durch die sprachlichen Formen, sondern nur durch ihre Inhalte gekennzeichnet. Sachverhalte wie Es blitzt und Die Erde existiert rund drei Milliarden Jahre haben die gleiche Tempusform, entsprechen aber extrem verschiedenen Zeitdimensionen. Die Wahl der Präsensform durch den Sprecher bringt davon nur die für ihn gegenwärtige Gültigkeit zum Ausdruck. Das Präsens ist somit – wie alle Tempusformen im Deutschen – eine perspektivisch-egozentrische grammatische Kategorie.12

Trotz dieser subjektiven Gebundenheit des Präsens (das freilich auch zum Ausdruck von als objektiv geltenden und nachweisbaren Gegebenheiten erscheint) wird es in zahlreichen unterschiedlichen Textsorten als durchgängige Tempusfarm gebraucht. Diese ließen sich nach der aktualen und nach der atemporalen Präsensverwendung weiter differenzieren. Das aktuale Präsens findet sich in Reportagen, bestimmten Gegenwartsnachrichten, Erzählberichten und Reden in Politik und Wirtschaft, das atemporale Präsens dagegen in Texten der Wissenschaft, Gesetzgebung, in Kommentaren, in Inhaltsangaben, in bestimmten Werbetexten imperativischer wie konstatierender Art, Gebrauchsanweisungen, Lehrtexten, Sprichwörtern, Aphorismen, Essays und in einigen Dichtungsformen.

Die Tempusformen der Dichtung bedürfen dabei einer differenzierteren Betrachtung. Die meisten literarischen Aussageforrnen (bis auf Lehrdichtungen u.ä.) weisen in unterschiedlichem Maße Tempusdifferenzierungen auf, vergegenwärtigen bestimmte Situationen, Handlungen, Vorgänge, die als Erzählgegenwart, -vergangenheit, -zukunft »repräsentiert« werden können. Unter diesem Aspekt wäre eine Auffassung der hier begegnenden Präsensformen als aktuales Präsens gerechtfertigt. Andererseits besitzt gerade die »Repräsentation« von Dichtung einen Wirklichkeitscharakter eigener Art. Die Wiederholbarkeit des Erlebens von Dichtung rückt ihre Tempusformen in den Bereich des Atemporalen.13

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Insbesondere der Lyrik wird ein solches atemporales Präsens zugeschrieben, das in der Stil- und Dichtungstheorie verschieden erklärt und bezeichnet worden ist: als »Entepisierung des Lyrischen»14, als »evozierendes und evokatives Präsens«15 oder als »szenisches Präsens«16.

E. Staiger, der den Versuch unternommen hat, die Grundformen der Poesie den Zeitbegriffen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beizuordnen17, weist gerade die Lyrik mit ihrer Präsensdominanz der Gegenwart zu, weil im lyrischen Sprechen die Erzähldistanz weitgehend überwunden und der Erlebende in die durch Sprache heraufbeschworene poetische Wirklichkeit hineingenommen wird, ihm die Bild- oder Gedankenwelt als »Erinnerung« im »Innewerden« begegnet. Unzählige Gedichte könnten dafür als Beispiel dienen:

Nun ist es still um Hof und Scheuer,

Und in der Mühle ruht der Stein ...

(Th. Storm, »Sommermittag«)

Sprich aus der Ferne,

Heimliche Welt,

Die sich so gerne

Zu mir gesellt!

(Cl. Brentano, »Sprich aus der Ferne«)

Selbst dort, wo das Gedicht über die statische Bildvergegenwärtigung hinausgeht und Vorgänge oder Prozesse verdeutlicht, kann die Präsensforrn bestehenbleiben:

Ein jäher Blitz. Der Erntewagen schwankt.

Aus seinen Garben fahren Dirnen auf

Und springen schreiend m die Nacht hinab ...

(C. F. Meyer, »Erntegewitter«)

Die sprachliche »Repräsentation« vollzieht sich aber auch dort, wo Dichtung in einem Vergangenheitstempus dargeboten wird:

Es war, als hätt' der Himmel

Die Erde still geküßt ...

(J. v. Eichendorff, »Mondnacht«)

Wenn in solchen Versen aufgrund des Präteritums die Aussage stärker als Erlebnis des Dichters wirkt, das dem Nacherlebenden nicht mehr unmittelbar vermittelt wird, so bleibt doch der Charakter der Vergegenwärtigung hier – wie in vielen Lyrikformen – erhalten.

Das Überspielen der Tempusgrenzen in literarischen Texten wird auch in einer anderen Darbietungsform sichtbar: im historischen Präsens. Schon die antiken Autoren nutzten es als wirksames Stilmittel, wenn es galt, ein als vergangen empfundenes Geschehen in seiner Lebendigkeit und Spannung zu vergegenwärtigen. Die Aufsatzlehre der Schule lehrt noch heute die Verwendung dieses Stilmittels im »Erlebnisaufsatz«:

Es war an einem schönen Sonntagmorgen in den Sommerferien, als der Jugendverein ... in den Wald hinauszog, um sein Sommerfest zu feiern ... Um zehn Uhr beginnt es! ... Alle paar Minuten wird ein Junge abgeschoben, Name and Zeit aufgeschrieben ...

(G. Kühn, »Stilbildung in der höheren Schule«, S. 69)

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Auch in der Geschichtsschreibung war dieses Stilmittel einst beliebt. So wechselt z.B. Schiller in seiner »Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung« wie in der »Geschichte des Dreißigjährigen Krieges« wiederholt vom Erzähltempus des Imperfekt in das des Präsens, um bestimmte Geschehnisse in ihrer Ereignishaftigkeit und Spannung hervorzuheben, aber auch, wenn er die Lebendigkeit eines Vorgangs, z.B. die Heftigkeit des Kampfes, schildern will. Der Wechsel vom Prätenturn ins Präsens kann sich hierbei sogar innerhalb eines Satzes vollziehen:

Wütend war der Andrang, der Widerstand fürchterlich; der ganzen Wut des feindlichen Geschützes ohne Brustwehr dahingegehen, grimmig durch den Anblick des unvermeidlichen Todes, laufen diese entschlossenen Krieger gegen den Hügel Sturm, der sich in einem Moment in den flammenden Hekla verwandelt und einen eisernen Hagel donnernd auf sie herunterspeit.

(Schiller, »Geschichte des Dreißigjährigen Krieges«)

Bereits in der Literatur des 19. Jhs. tritt das Stilmittel des historischen Präsens zurück.18 Gelegentlich begegnet es aber auch noch bei Autoren des 20. Jhs.:

Plötzlich hatte ich genug –

lvy malte ihre Fingernägel und summte –

Plötzlich höre ich mich am Telefon: Anfrage wegen Schiffsplatz nach Europa ...

(M. Frisch, »Homo Faber«)

Die neuere Erzählliteratur kennt daneben weitere Formen des Wechsels zwischen erzählendem Präsens und erzählendem Präteritum (Imperfekt). So ist schon verhältnismäßig früh der Versuch unternommen worden, nicht nur einzelne Begebenheiten ins (historische) Präsens zu übertragen, sondern auch ganze Abschnitte, schließlich ganze Werke in dieser Ternpusform abzufassen. Dabei handelt es sich nicht (wie W. Schneider meint19) meistens um »Romane auf tiefer schriftstellerischer Ebene«; Romane der Gegenwart zeigen vielmehr, daß diese alternative Tempusverwendung in der experimentierenden neueren Erzählprosa besonders geschätzt wird, während die gelegentliehe Verwendung des historischen Präsens nur in der Unterhaltungs- und Trivialliteratur zuzunehmen scheint. W. Schneider führt nur Wilhelm Schäfers Pestalozzi-Roman »Lebenstag eines Menschenfreundes« (1915) und Franz Werfels «Lied von Bernadette« als Beispiele im Präsens erzählter Romane auf. Hinzuzufügen wären zumindest Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz« (1929), wo das erzählende Präteritum nur noch vereinzelt auftritt, und neuerdings Günter Grass’ Roman »Hundejahre«, wo Präteritum und Präsens ständig wechseln und teilweise verschiedene Erzählebenen spiegeln, sowie Peter Handkes Roman »Der Hausierer«, in dem der Autor das Präteritum zu meiden sucht und statt dessen im Präsens, Perfekt und gelegentlich im Plusquamperfekt schreibt, oder Johannes Bobrowskis Roman »Levins Mühle«, der fast nur im Präsens erzählt ist.

Im oberdeutschen Sprachgebiet ist die Präsensform häufig dominierende Tempusform für das mündliche Erzählen. Darüber wird im Zusammenhang des Perfekts mehr gesagt.

Diese verschiedenen Formen der Präsensverwendung als Erzähltempus sprechen gegen eine Auffassung des Präsens als ausschließliches Beschreibungs-

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tempus, wie dies H. Weinrich betont20, wenn auch eine solche Tendenz nicht verkannt werden soll.

In und außerhalb der Dichtung dient das Präsens nicht nur der Darbietung von als gegenwärtig wie als vergangen empfundenen Einzelheiten, sondern kann auch den Zukunftscharakter bestimmter Äußerungen verdeutlichen, sei es als Ankündigung, Anordnung, Voraussage oder Vorausschau. Die Bedeutung des Künftigen kann mit Hilfe der Präsensform auf zweierlei Weise ausgedrückt werden:

1. mit Hilfe einfacher Präsensformen des bloßen Verbs, deren Futurbedeutung sich aus der Situation ergibt und bei einigen Verben (mit perfektivem Aspekt) auch von vornherein gegeben zu sein scheint;

2. mit Hilfe bestimmter Zeitadverbien des Künftigen in Verbindung mit einfachen Präsensformen.

Für den Ausdruck des momentanen Geschehens besitzt die deutsche Sprache außer den genannten Formen keine besondere verbale Formenklasse, wie z.B. die sogenannte Dauerform (progressive Form) im Englischen. In der Umgangssprache ist jedoch eine gewisse Ersatzform dafür üblich geworden, die durch »beim« (rheinisch: »am«), gelegentlich auch »im« + substantivierter Infinitiv + finite Verbform von »sein« gebildet wird:

Er ist beim Schreiben (am Schreiben) eines Briefes. – Er schreibt gerade einen Brief.

Er liegt im Sterben. – Er stirbt jetzt.

Man wird derartige Formen in der Umgangssprache als Varianten zum prä-sentischcn Ausdruck mit Hilfe von einfachen Verben oder verbalen Formen mit temporalen Adverbien ansehen müssen. Als adverbiale Kennzeichnung eines Geschehens, das durch ein anderes finites Verb ausgedrückt wird, sind präpositional eingeleitete Infinitivsubstantivierungen auch in der Hochsprache üblich (z.B. Das Kind verunglückte beim Schwimmen. – Beim Husten habe ich Schmerzen.).

Das Präsens erweist sich so als Tempus mit dem größten Vcrwendungsspielraum. Das ist auch für die Stilistik von Belang, bieten sich doch hier recht unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten zur wirkungsvollen Darstellung von Sachverhalten der verschiedensten Art.

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